Heiner Hiltermann, Journalist und Autor

Warten auf Ashok Kumar

Wer ins Spiti-Valley will braucht ein Inner Line Permit. Sagt der Reiseführer. Das Spiti-Valley liegt zwischen Ladakh und Himachal Pradesh im Norden Indiens und ganz nah an der chinesischen Grenze. In der Karte sind sogar Übergänge nach Tibet eingezeichnet, illegale natürlich, jedenfalls für Ausländer, und auf der chinesischen Seite verlieren sich die Wege zwischen hohen Berggipfeln, mäandernden Flüssen und Quellseen. 1962 hat China in einem kurzen Krieg ein paar schmale Landstreifen entlang der Grenze besetzt. Seither ist hier militärisches Sperrgebiet, auch wenn sich die beiden Grossmächte mittlerweile vor allem wirtschaftlich um Annäherung bemühen.
Wo viel Militär unterwegs ist, braucht man zum Riesen eine Sondergenehmigung: das Inner Line Permit. Der Reiseführer sagt, es sei einfach beim Ministry of Home Affairs in Delhi zu bekommen. Und nur dort. Unsere Erfahrung mit der indischen Bürokratie beginnt am Montagmorgen um 9:00 Uhr, als uns das Taxi vor dem Ministerium absetzt. Gleich neben dem streng bewachten Eingang steht das Empfangsgebäude. In dem kleinen, flachen Bau werden die Anmeldungen registriert und jeder Antragsteller bekommt eine Nummer zugewiesen. Die Zahl der Wartenden ist gross und es gibt ein bisschen Gedränge. Aber das ist nichts, verglichen mit dem, was später noch kommt.
Eine grosse, elektronische Anzeigentafel zeigt rot die Nummern an, noch geht alles übersichtlich und geordnet zu. Unser Begehren wird mit Name, Reisepass- und Visanummer im Computer gespeichert, wir bekommen einen grünen Laufzettel – und dann beginnt der Wahnsinn.
Wir haben Nummer 51. In dem Raum, in den wir geschickt werden, warten mindestens doppelt so viele Bittsteller auf die Bearbeitung ihrer Anträge. Familien aus Bangladesch sind dabei, Pakistani, die Frauen muslimisch streng verhüllt, Tibeter – sie werden später tatsächlich mit Tibetan Nationality aufgerufen, nicht mit Chinese Nationality –, Sikhs mit amerikanischem Pass, eine junge Polin in leichtem Sommerkleid und unzählige andere Nationalitäten.
Alle warten. Der Raum ist eng, in den staubigen Polstersesseln sitzen vor allem die Frauen eng aneinander gedrängt, eine Pakistani liest im Koran schaukelt dabei den Oberkörper vor und zurück. Ein schmaler Anschlussraum enthält Tische, Stühle und Namensschilder der Sachbearbeiter. Hier wird entschieden, denken wir, hier bekommen wir unseren Stempel.
Die zuständigen Beamten beginnen Ihre Arbeit um 10:00 Uhr, steht auf einer Tafel. Eine Viertelstunde nach der angekündigten Zeit entsteht am kleinen, runden Pult am Eingang Gedränge. Eine Frau mit Brille und grünem Sari tut offiziell. Ihr Englisch ist schwer verständlich und so erfahren wir erst, worum es geht, als ein Kollege erscheint und etwas Ordnung ins Chaos bringt. Er ruft der Reihe nach die Nummern auf und sofort lockert sich der Stau. Die Frau darf endlich ihre Arbeit tun und Formulare verteilen. Schnell füllen wir sie aus, doch als wir sie abgeben wollen winkt der Beamte ab: Mit Nummer 51 sind wir noch nicht an der Reihe. Und ausserdem: wo sind Kopien von Pässen und Visa?
Wir sind nicht die einzigen, die keine Kopien dabeihaben. Im Erdgeschoss macht ein junger Inder ein gutes Geschäft. Vor seinem Kopierer: Gedränge. Endlich können wir unsere Formulare abgeben, aber auf den Stühlen der Sachbearbeiter hat sich noch niemand niedergelassen. Um 11:30 Uhr erscheint der erste, einen Stoss Formulare in der Hand. Er lehnt sich zurück, blättert stirnrunzelnd in einem Antrag, ruft schliesslich die Nummer auf, den Namen und die Nationalität. Sofort entsteht Bewegung unter den Wartenden, es vergehen nur Sekunden, dann ist der Tisch umstellt. Ungerührt verhandelt der Beamte den Fall eines Engländers – und entscheidet ihn abschlägig. Der Engländer will den Chef sprechen, der Beamte verschwindet mit ihm für eine Viertelstunde. Dann kommen beide zurück, der Brite ziemlich kleinlaut. Um 16:00 Uhr darf er nochmal vorstellig werden und die noch fehlenden Papiere mitbringen. Eine amerikanische Missionarin bekommt ihr Visum nicht verlängert, jede Diskussion ist zwecklos. Sie hat die Nummer 83, die Reihenfolge spielt offenbar keine Rolle mehr. Wir sind offensichtlich die einzigen, die ein Inner Line Permit wollen, die anderen müssen ihr Visum verlängern oder brauchen – eine besondere Schikane für Pakistani – eine besondere Erlaubnis für den Besuch heiliger islamischer Stätten.
Mittlerweile sind noch zwei weitere Sachbearbeiter erschienen, das Gedränge nimmt bedrohliche Ausmasse an. Zwei Ventilatoren wälzen vergeblich die dicke Luft. Die Polin hat mit ihrem Antrag auch keine Chance und zieht beleidigt von dannen. Wir sehen Sie später nochmal in den Gängen, sie scheint hartnäckig, hat noch nicht aufgegeben. Eine Pakistani schenkt uns eine Packung Kekse. Man hat schnell Kontakt, wir sind alle Schicksalsgenossen. Endlich wird die Nummer 51 aufgerufen. Wir schildern unser Begehren, der Sachbearbeiter schüttelt verständnislos den Kopf. Ein Inner Line Permit? Für das Spiti-Valley? Wo liegt denn das? Er berät mit einem Kollegen. Sie entscheiden, dass der Fall für sie zu schwierig sei. Unser Sachbearbeiter schickt uns in Zimmer 24, dort werde uns geholfen.
Nur, wo ist Zimmer 24? Die 22 finden wir in den endlosen Gängen, die 25, die 26, aber die 24 fehlt. Angestellte mit Mappen unter dem Arm eilen geschäftig mit abweisenden Blick an uns vorbei. Wir trauen uns schliesslich doch, einen jüngeren Mann anzuhalten. Er hat im Gegensatz zu seinen Kollegen den Fehler gemacht, uns ganz kurz anzuschauen. Ohne ein Wort zu verlieren bedeutet er uns, ihm zu folgen. Es geht durch dunkle, vor Jahrzehnten in einem schmutzigen Grün gestrichene Gänge, in denen defekte Kühlgeräte vor sich hin rosten; wir queren unzählige Büros, nur wenige Schreibtische sind besetzt und die Beamten dort starren mit müden Augen in graue Akten. Wieder Gänge, schliesslich stehen wir vor Zimmer 24.
In Büro türmen sich auf vier enggestellten Schreibtischen Papiere, die Beamten dahinter tun scheinbar nichts. Wir drängen uns durch die enge Gasse zum hintersten Tisch. Der Mann hört auf, mit dem Stuhl zu wippen und lauscht uninteressiert unserem Begehren. Schnell ist klar, dass auch er uns nicht weiterhelfen kann. Aber er schickt uns nicht einfach ins nächste Büro, sondern führt uns selber. Es ist weit nach 12:00 Uhr und so nutzt er die Gelegenheit, sich von seinen Kollegen zum Mittagessen zu verabschieden.
Wieder geht es durch, lange dunkle Gänge, eine Treppe hoch, eine weitere wieder hinunter, durch enge Büros voller verstaubter Akten. Kafka muss einmal hier gewesen sein. Schliesslich übergibt uns unser Guide an einen weiteren Sachbearbeiter, der sich erst einmal ausgiebig mit seinem Kollegen berät. Er wiegt nachdenklich den Kopf, entscheidet dann: Uns könne nur Ashok Kumar weiterhelfen.
Ashok Kumar muss ein wichtiger Mann sein – er hat einen Raum für sich allein und neben der Tür hängt ein Schild mit seinem Namen. Als wir sein Büro erreichen – wieder nach einer endlosen Wanderung durch das Bürokratenlabyrinth – steht die Tür weit offen. Doch von Ashok Kumar keine Spur. Unser Führer ist wortlos verschwunden, also fragen wir im Nachbarbüro. Es ist Mittag, wahrscheinlich sei er zu Tisch, hören wir. Wie lange das dauert? Keine Ahnung, vielleicht bis 15:00 Uhr? Wir beschliessen zu warten, es ist unsere einzige Chance.
Immer wieder betreten Angestellte das Büro und wir eilen hinterher. Doch jeder legt nur ein paar Akten auf den Schreibtisch und verschwindet wieder. Die Frau aus Pakistan, die uns die Kekse geschenkt hat, winkt uns von weitem und zeigt uns den nach oben gestreckten Daumen – immerhin eine, die Erfolg gehabt hat. Auch andere Bittsteller treffen wir wieder, einige müssen ebenso auf Ashok Kumar warten.
Endlich, es ist 14:30 Uhr, nimmt ein Mann hinter dem Schreibtisch Platz. Das rot-weiss gestreifte Hemd war vorher schon einmal im Büro, hatte aber offensichtlich nur nachgeschaut, wie viele Akten sich auf seinem Schreibtisch angesammelt hatten. Als wir demütig vor seinen Tisch treten, winkt er unwirsch ab und stellt eine Plastiktasche mit seinem Mittagessen auf die Ablage. Wir sollen in einer halben Stunde wiederkommen.
Wir üben uns weiter in Geduld, hören es drinnen schmatzen. Schliesslich erscheint Ashok Kumar auf dem Gang, doch statt uns herein zu bitten, verschwindet er grusslos hinter der nächsten Ecke. Nur zum Händewaschen – wir atmen erleichtert auf. Als er endlich wieder hinter seinem Schreibtisch Platz genommen hat, drängt sich ein Beamter an uns vorbei und verhandelt erst einmal ausführlich seine Sache.
Unser Fall ist dann schnell geklärt. Wir seien schon an der richtigen Stelle, aber so ein Inner Line Permit, das dauere. 14 Tage, mindestens.
Am nächsten Morgen landen wir in Leh, der Hauptstadt des indischen Bundesstaats Ladakh. Über der Rezeption unseres Guesthouses prahlt ein Plakat: „Wir besorgen Ihnen das Inner Line Permit innerhalb eines Tages.“

Text: © Heiner Hiltermann