Heiner Hiltermann, Journalist und Autor
Wir hatten lange gezögert, einen Trek nach Upper Mustang zu organisieren, ein kleines ehemaliges Königreich im Nordwesten Nepals mit tibetisch-buddhistischer Kultur, das durch seine hohen
Eintrittskosten – 50 Dollar pro Person und Tag – einem eher exklusiven und kleinen Publikum vorbehalten bleibt – nur 1000 Touristen dürfen pro Jahr in das gesperrte Gebiet. Aber Mitte/Ende Mai
wandert man auf den klassischen nepalischen Treks oft im Regen. Mustang dagegen liegt im Regenschatten von Annapurna und Dhaulagiri, Niederschläge sind selten. Wir kamen gerade aus Tibet und
erwarteten nichts Neues. Wie hatten wir uns getäuscht!
Schon der erste Tag führt uns das Tal der Kali-Gandaki entlang in ein atemraubendes System von Seitentälern und Schluchten: Kegelberge aus Konglomerat, die aussehen als würden sie jeden Augenblick
zerbröseln, die eingebackenen Kiesel poliert von den hier ewig blasenden starken Winden; himmelhohe rote Sandsteinwände mit weiten Klippen und Höhlen, von Menschen in der Vorzeit erweitert zu
Fluchtburgen und nur über abenteuerliche Leitersysteme zu betreten; weiss-grau-blaue Kalkwände, in denen weiss Gott welche Mineralien gelöst sind; Granit und Gneis in allen Formen und Farben – ein
Paradies für Geowissenschaftler. Und zwischendrin immer wieder die bunten Tschörten und roten buddhistischen Klöster.
In den Tälern kontrastieren die grünen Felder mit der umgebenden grau-braun-gelben Wüste, der Natur mühsam abgerungen durch ausgeklügelte Bewässerungssysteme, ohne die hier weder Gerste noch
Buchweizen noch Kartoffeln wachsen. In kleinen Gärten gedeiht etwas Gemüse, Apfelbäume blühen auf 3500 Meter Höhe.
Die Häuser strahlen weiss in der Sonne, die wegen der kalten Temperaturen kleinen Fenster sind wie in Tibet mit schwarzer Farbe umrahmt. Die Menschen wirken zufrieden, trotz der mühsamen Arbeit: Die
Gastgeberin in unserer Herberge in Lo Manthang heizt schon um sechs Uhr morgens das Esszimmer ein, damit ihre Gäste es warm haben. Danach bereitet sie das Frühstück, individuell, so wie jeder ihrer
Gäste es am Vorabend bestellt hat. Dann hilft sie bei der Reinigung der Zimmer. Aktuell ist ein Grundputz angesagt – der billige Nadelfilzboden wird keineswegs weggeworfen, sondern im nahen
Bewässerungskanal gründlich geschrubbt und wiederverwendet. Dann steht sie wieder in der Küche für den Lunch, den Nachmittagstee, das Abendessen. Trotzdem erfüllt sie alle Sonderwünsche mit
erstaunlicher Gelassenheit.
Fröhlich ist auch der kleine Onil, der uns in Bhena mit einer Mickymaus-Krone begrüsst, so dass wir ihm gleich zum Geburtstag gratulieren. Zehn Jahre alt wird er, erzählt Onil. Erst später gesteht er
mit verschmitztem Lächeln, dass er eigentlich jeden Tag Geburtstag feiert – und von den vorbeiziehenden Trekkern so manches Geschenk einheimst: einen kleinen Karabiner, ein Freundschaftsband. Onil
ist hier nicht zuhause, wie wir anfangs vermuten. Seine Eltern wohnen unten im Tal, drei Tagesreisen im Jeep entfernt, ein Fahrzeug das sich der Kleine gar nicht leisten kann. Er soll hier die Ziegen
hüten und in der Gaststube helfen, erzählt der Besitzer. Onil lacht zufrieden. Erst als sein Boss verrät, Onils Vater sei Inder, die Familie sehr arm, wird der Junge sauer. Selbst wenn es stimmte –
das geht niemanden etwas an.
6000 Menschen leben hier am der Grenze zu Tibet, in 31 Siedlungen. die meisten jedoch nicht übers ganze Jahr. Zweidrittel etwa entfliehen der Winterkälte nach Süden. Sie betreiben dann kleine
Souvenir- oder Kleidershops in Pokhara, Kathmandu oder in Indien und verdienen sich ein bisschen hinzu. Zurück bleiben hauptsächlich die Alten. Sie schauen nach dem Vieh und den Häusern. Die meiste
Zeit aber sitzen sie wohl wie auch jetzt an den relativ wärmsten Plätzen und lassen ihre Gebetstrommeln kreisen.