Heiner Hiltermann, Journalist und Autor

In Tibet wird die Kultur mehr und mehr zur Folklore

(Langfasung eines Textes für die Basler Zeitung, September 2006/© Heiner Hiltermann)

Langsam saugt die Sonne die Wolken von den Bergen und gibt den Blick frei auf eine Kette namenloser Sechstausender. Über den frisch verschneiten Gipfeln prangt blass der volle Mond. Eine Herde schwarzer Yaks zieht gemächlich grasend über die baumlose Steppe. Durch die weite Ebene, aus der am Horizont senkrecht die Berge wachsen, sucht sich ein Zufluss des Yarlung Zangbo seinen Weg, der tausend Kilometer stromabwärts beim Passieren der indischen Grenze seinen Namen wechselt und fortan Brahmaputra heisst.
Die Felsgrate empor schlängeln sich unzählige Ketten bunter Stofflappen – Gebetsfahnen mit dem aufgedruckten Segensspruch der Tibeter: Om mani padme hum, Juwel in der Lotusblüte. Der ewige Wind trägt das wichtigste Mantra des tibetischen Buddhismus in die Welt hinaus. Auch die Passübergänge sind übersät mit diesen roten, gelben, blauen Farbtupfern, die wunderschön kontrastieren mit dem braun-grünen Grasland und dem Schneeweiss der Berge. Touristen fotografieren hier gerne.
Die Yak-Hirten und ihre Familien haben das erkannt und bieten für wenig Geld allerlei Souveniers an: Halsketten aus rotem Korallen- und hellblauem Türkisimitat, Heilpflanzen aus den unberührten Bergen und nicht zuletzt sich selbst als Fotomotiv. So ein wettergegerbtes Hirtengesicht, eine der Frauen in traditioneller Tracht machen sich gut vor dem malerischen Hintergrund. Mancher Hirte hat den Souvenirhandel und das Posieren als Fotomodell zwischenzeitlich zum Haupterwerb erkoren: Er verdient damit offensichtlich leichter, schneller und vor allem mehr Geld, als mit dem Hüten von Schafen und Yaks. In einer Senke abseits liegt das Motorrad, das ihn am Abend, wenn die Touristen wieder heimkehren in die Hotels in Lhasa, in die nächste Siedlung bringt. Das Leben dort mit Fernsehen, Bier und Poolbillard ist doch weit angenehmer, als das karge Dasein in der Steppe.
Die Lebenswelt der Tibeter verändert sich, nicht zuletzt durch den zunehmenden Tourismus. «Für die meisten Menschen verbessern sich die Lebensbedingungen», ist Tanzen Lhundup überzeugt, Professor am Forschungsinstitut für Tibetologie in Peking. Der Wohlstand steigt. «Der Einfluss des Tourismus auf die Kultur ist kein Problem», versichert Lhundups Kollege Zhou Wei. «Die Klöster hängen doch von der Wirtschaftsentwicklung ab», sagt er. «Mit dem Tourismus können die Mönche viel Geld verdienen.»
Das Sera-Kloster ist eines der drei alten grossen Klöster Lhasas. Ein langer gepflasterter Weg führt den Hang hinauf, gesäumt von den Wohnhäusern der 800 hier lebenden Mönche. Von weitem schon erschallt aus dem Garten der Anlage lautes Rufen und Klatschen – die Debatte der Mönchschüler. 400 sind es, die jeden Nachmittag zwei Stunden lang das in den Vorlesungen am Vormittag Gelernte fragend repetieren müssen. Ein, manchmal auch zwei junge Mönche in schützender Umarmung sitzen in ihre weinroten Tücher gehüllt auf dem Boden. Ein weiterer Schüler steht vor ihnen, den linken Arm wie drohend nach vorne gereckt. Mit dem rechten Arm holt er aus, schreit seine Frage, seine These den Sitzenden entgegen, wobei er wuchtig in seine linke Hand schlägt. Das wiederholt sich ständig und überall auf dem engen Platz, so dass ein lautes Durcheinander entsteht, für den Aussenstehenden nicht ganz frei von Aggression. Aber die meisten Mönche scheinen Spass an der Debatte zu haben und die Debatte wie eine Schau zu inszenieren. Zuschauer haben sie genug: Auf einem gepflasterten «Laufsteg» rund um den Debattenhof beobachten zahlreiche Touristen und wenige tibetische Gläubige die Szene.
Das Sera-Kloster selber strahlt mit seiner jahrhunderte alten Geschichte Würde und Weisheit aus. Dicht drängen sich Touristen und Gläubige durch die von wenigen Glühbirnen nur schwach erhellten Räume. Die blakenden Butterlampen verströmen einen irritierend ranzigen Duft. Überall strahlen vergoldete Buddhastatuen in ihren unterschiedlichen Haltungen. Hinter Glastüren lagern kostbare Schriften, oben an den Wänden hängt ein Sammelsurium von Waffen – Schwerter, Dolche, Pfeil und Bogen. Und überall liegt Geld, das jeder Gläubige vor den Buddhastatuen opfert, die ihm Heil und Erlösung versprechen. Reiseleiter erläutern die einzelnen Posen auf Englisch, Chinesisch, Spanisch, Deutsch; die Gläubigen stehen und staunen, sie verstehen nicht, was hier geschieht mit ihrem heiligen Kloster. Die Mönche sehen es gelassen, so mancher verdient sich selber ein Zubrot als sachkundiger Klosterführer.
Früher lebten hier im Sera-Kloster wohl mehr als doppelt so viele Mönche. Früher, das heisst vor dem Einmarsch der von der Zentrale in Peking geschickten Volksarmee, vor dem «demokratischen Wandel» Anfang der 1960er Jahre. Früher, da war Tibet noch ein theokratischer Feudalstaat, Adel und Klerus regierten das Volk mit absoluter Gewalt. Die Klöster verfügten über ausgedehnte Ländereien, die sie von zahllosen Leibeigenen bewirtschaften liessen. Die Masse der Tibeter hielt der Mühsal nur Stand durch die Heilsversprechen der Religion. Die Mönche brauchten sich um ihr Auskommen nicht zu sorgen, sie konnten sich ganz der meditativen Versenkung widmen. Fremde bekamen nur selten Zugang zu den Klöstern.
Das ist heute anders. Die Klöster sind verpflichtet, den Touristen Zugang zu gewähren, erklärt Zhou Wei. Die Regierung in Peking fördert den Tourismus aktiv. Die Zahl der Flüge nach Lhasa nimmt zu und erst im Juli wurde die neue Bahnlinie von Peking nach Lhasa eingeweiht (siehe xxx). Im Oktober schon sollen neue Direktverbindungen von Schanghai und Kanton eingerichtet werden. Die Grösse des neuen Bahnhofs in Lhasa lässt vermuten, dass damit das Ende des Touristenstroms noch lange nicht erreicht ist. Die Bahnlinie macht das Reisen billig, bereits in diesem Jahr rechnen die Fachleute mit 1,5 Millionen Gästen. 2005 waren es noch 500 000 weniger.
Am Abend entfaltet der Potala, der alte Palast des Dalai Lama, seine ganze Pracht. Er thront, schattenlos ausgeleuchtet, hoch über Lhasa. Die Leuchtreklamen der zahlreichen Bars und Hotels verblassen dagegen. Auch tagsüber, im Sonnenlicht, erzeugt der Potala seine Wirkung, nur unwesentlich beeinträchtigt durch die neuen Warenhäuser zu seinen Füssen. Auf dem grossen Platz unterhalb des Palastes mischen sich Touristen mit ihren Kameras, Gläubige mit ihren Gebetsmühlen und Souvenirhändler. Professionelle Fotografen hüllen die zahlreichen chinesischen Touristen in sakrale Mönchsgewänder und lichten sie in Tanzposen ab, die eigentlich den festlichen Zeremonien der Klöster vorbehalten sind.
Unter dem Druck der Zentralregierung haben die Verwalter des Potala-Palastes die Zahl der täglichen Besucher auf 2500 erhöht – viel zu wenig, weil die meisten Touristen in den Sommermontaten einreisen; – schon jetzt viel zu viel, weil man den Palast nur in einem vorbestimmten Zeitraster besuchen kann, der kaum Zeit lässt für eingehendere Betrachtungen. Hintereinander werden die Besuchergruppen durch das Bauwerk geschleust – nur ein Bruchteil der 999 Räume steht den Besuchern offen. Vor jeder Buddhastatue, vor jeder Stupa mit den mumifizierten Überresten eines eines früheren Dalai Lama ist die Aufenthaltsdauer begrenzt. Vorne blockiert eine Gruppe den nächsten Platz, hinten drängt schon die nächste. Für Fragen, für einen genauen Augenschein bleibt keine Zeit.
Mühsam ist es auch für die Gläubigen, die trotz des Andrangs Zugang zu ihrem Heiligtum suchen. Einen Topf mit Yakbutter unter dem Arm, stehen sie scheu hinter den Massen und trauen sich kaum nach vorn. Dort erst können sie ihre Opfergabe einem hinter der Absperrung wartenden Mönch überreichen. Der nimmt einen Löffel Yakbutter aus dem Geschirr und füllt ihn in die Lampen, deren Dochte die Objekte der Anbetung schwach erhellen. Der Thronsaal – vorbei; der Schlafraum des Dalai Lama in früheren Zeiten – ein flüchtiger Blick; die Stupa des 5. Dalai Lama, der sich besondere Verdienste um den Glauben erworben hat – 3,7 Tonnen Gold sind hier verarbeitet und 10 000 Edelsteine, das ist alles, was hängen bleibt. Die Atmosphäre der dämmrigen Räume, die Spiritualität geht unter im Geschrei der Potala-Führer, die ihr Wissen in Chinesisch, Tibetisch und manchmal auch in Englisch herunterbeten. Und im Stimmengewirr der Touristen, vor allem der chinesischen Besucher. Die meisten drängen noch schneller vorbei an all den Sehenswürdigkeiten, als sie eigentlich müssten und schaffen damit noch mehr Konfusion. Sie streben der Empfangshalle entgegen, die der ehemalige Staats- und Parteichef Jiang Zemin mitten in den Palast hat setzen lassen. Hier kann man sich niederlassen, Uniformierte servieren Tee, in feilgebotenen Büchern kann man nachschauen, an welchen spektakulären Sehenswürdigkeit man gerade achtlos vorbei gehastet ist.
Die Mönche betrachten das Gedränge mit stoischer Ruhe. Sie haben gar keine Wahl, gegen die Pläne der Zentralregierung zu opponieren. Die sieht den tibetischen Kleriker zunächst als Bürger des Staates und erst in zweiter Linie als Mönch. Deshalb müssen auch die Münche, wie alle Chinesen, teilnehmen am patriotischen Erziehungsprogramm. Das soll sie einschwören auf das Vaterland China und stolz machen, Staatsbürger dieser mächtigen Nation zu sein. Die tibetische Identität ist da allerhöchstens zweitrangig. In China wird nicht in Chinesen und Tibeter unterschieden: Chinesen sind sie alle. Die einen sind Han-Chinesen, das Staatsvolk, dem mehr als 90 Prozent der Menschen in China angehören, die anderen sind Chinesen tibetischer Nationalität. Auf diese Sprachregelung wird jeder Besucher immer wieder hartnäckig hingewiesen.
Kritiker wie der Dalai Lama werden im patriotischen Erziehungsprogramm als Sezessionisten gebrandmarkt, als Verräter des Vaterlands. Für manche Mönche ist das ein Problem (siehe: «Ich hätte den Dalai Lama verleugnen müssen, das habe ich abgelehnt»). Glaubt man allerdings Bi Hua, Vizedirektorin des Tibet-Forschungsinstituts in Peking, sind die tibetischen Gläubigen durchaus in der Lage zu differenzieren. «In den Herzen vieler Tibeter mag der Dalai Lama ein lebender Buddha sein», sagt sie. «Aber seine politischen Aktivitäten verurteilen sie vehement.»
Baima hat den Einmarsch der Volksarmee 1951 als Befreiung erlebt. Sie war damals 19 Jahre alt – und Leibeigene des Klosters Zhagu im Bezirk Shannan. «Wir konnten damals nur mit gesenktem Kopf gehen», erinnert sie sich. Zhaxi, Baimas Mann, nickt, er hat es gleich empfunden. Heute leben beide als Rentner in Lhasa. Er hat sein weiteres Arbeitsleben als Techniker in der Landwirtschaft verbracht, sie als Buchhalterin. Sohn und Tochter sind bei der Polizei, «gut versorgt im Staatsdienst», sagt Baima. Ihre Dreizimmerwohnung ist traditionell eingerichtet, mit buntem Fries an der Decke und ebenso dekorativ bemalter Anrichte. Über dem Fernseher hängt ein Bild des jungen Mao Zedong. «Mao hat uns befreit», sagt Baima. Beide sind Mitglied der Kommunistischen Partei. Im Schlafzimmer steht der Hausaltar. «Wir sind gläubig», sagt Baima, «wir beten». Aber ihr Glaube hat sich verändert, ist schon lange nicht mehr der Mittelpunkt ihres Lebens. Ob sie sich wünscht, dass der Dalai Lama zurückkommt? Baima lacht, ihr ist es egal. China habe dem Dalai Lama immer eine Tür offen gehalten, sagt sie. Aber: «Der will doch gar nicht.»
Bamia und Zhaxi leben in einem Haus in traditionellem Stil, dreistöckig mit einem Innenhof und vielen Nachbarn. Tür- und Fenstergewänder sind klassisch bemalt. Nach einigen Auswüchsen in den vergangenen Jahren hat die Zentralregierung in Peking angeordnet, dass in der Innenstadt von Lhasa nur noch in tibetischem Stil gebaut werden darf. Baustellen gibt es reichlich, der Bedarf an Hotels, die den Ansprüchen der Touristen genügen, ist enorm. Am Stadtrand entstehen aber auch Wohnsiedlungen, wie sie typisch sind für Chinas Grossstädte. Für viele Chinesen aus dem Landesinneren ist es attraktiv, nach Lhasa zu ziehen. Es gibt genügend Arbeitsplätze und der Verdienst ist höher als im übrigen Land. Manche Tibeter fürchten, es sei die Politik Pekings, mit der Ansiedlung von Han-Chinesen Fakten schaffen zu wollen und die Tibeter in die Minderheit zu drängen.
Renduo ist 37 Jahre alt und ein vielbeschäftigter Mann. Ständig unterbricht das Klingeln des Handys seine Erzählung. Er ist Bauunternehmer und die neue Eisenbahn hat ihn reichlich mit Aufträgen versorgt.
Renduo lebt im Doangxiong-Kreis, zwei Autostunden nördlich von Lhasa. Mit der Zurschaustellung seines neu gewonnen Wohlstands hält er sich nicht zurück, die TV-Anlage nimmt beinahe die ganze Schmalseite seines grossen Wohnzimmers ein. An seinem Handgelenk prunkt schwer eine goldene Uhr. Die Schalen auf dem Tisch quellen über von Trauben und Äpfeln. Ständig schenkt Renduo Buttertee nach, als Zeichen seiner Gastfreundschaft. Seine Frau hat den Tee mit besonders viel Yakbutter angereichert, was ihn für ungeübte Europäergaumen noch ein bisschen gewöhnungsbedürftiger macht. Mit einem billigen Kredit hat sich Renduo einen Lastwagen gekauft und transportiert nun Baumaterialien. Die Eisenbahn ist fertig, doch der Boom hält an. «Auch bei uns wird überall gebaut», sagt er und deutet auf einige Baustellen in der Nähe. Er ist offensichtlich nicht der einzige, der von Bahn und Tourismus profitiert.
Trotz TV-Grossanlage und Handy – Renduo hält auch an den Traditionen fest, man kann ja nie wissen. Neben dem kleinen Hausaltar stapeln sich Schnapsflaschen als Opfergabe. Daneben hängt ein Bild des Panchen Lama – des von China benannten, nicht das des vom Dalai Lama erwählten und von Peking an unbekanntem Ort festgehaltenen Kandidaten. Dass es zwei Panchen Lama gibt, weiss Renduo nicht. Es interessiert ihn auch nicht weiter. Über dem Bild des Panchen Lama hat das KP-Mitglied eine Fotokollage mit Mao Zedong, Deng Xiao Ping und Jiang Zemin gehängt. «Ich verdanke Mao meinen Lebensstil», sagt Renduo. Draussen vor dem Haus zerren drei Hütehunde wütend an ihren Ketten.
Gebaut wird auch in Qinhai, der Nachbarprovinz von Tibet. Früher einmal hat der nördliche Teil zu Tibet gehört – eine Tatsache übrigens, die in den chinesischen Geschichtsbüchern verschwiegen wird. Auch hier sind 61 Prozent der Bevölkerung Tibeter, ist der tibetische Buddhismus weit verbreitet. Eine neue Autobahn schlängelt sich von Xining, der Hauptstadt Qinhais, in die Berge. Wenn sie bald befahrbar ist, wird sie die Fahrtzeit nach Tong Ren deutlich verkürzen. Tong Ren ist einigermassen vorbereitet auf den möglicherweise bevorstehenden Tibettourismus: Malschulen für die traditionellen Rollbilder, die sogenannten Tangka, bieten Unterricht und einigermassen konfortable Vollpension, ein Museum beherbergt tibetische religiöse Kunstschätze aus vergangenen Jahrhunderten. Woher die goldenen Figuren und kostbaren Tangka stammen? Kein Kommentar, die Kuratorin ist Mitte Zwanzig und erst ein Jahr im Amt. Wie sollte sie die Geschichte der Ausstellungsstücke kennen? Die meisten, so steht zu vermuten, stammen aus während der Kulturrevolution Mitte der 1960er Jahre geschleiften Klöstern.
1987 wurde das Museum gebaut, ebenso wie die Guomari-Pagode, die höchste im ganzen Bezirk. Dort, ganz oben in der Spitze, befindet sich ein kleiner runder Sakralraum. Vor einer Buddhastatue wird Geld geopfert. Heiliges Wasser steht in schweren Messingschalen auf schmalen Borden. In raumhohen Schränken lagern Zeremonialtücher in Gelb und Gold, stapeln sich unzählige Schriften. Vor dem Eingang wacht der einzige Mönch weit und breit mit dem entrückten Lächeln einer der vielen Buddhafiguren. Offenbar gehört er hier zur Ausstattung. Sonst wirkt die Pagode merkwürdig unbelebt, wie eine ungenutzte Theaterkulisse.
In Lhasa beschleicht den Besucher noch einmal der gleiche Eindruck: im Nyangra Folk Customs Resort. Hier kann sich der eilige Tourist in Kürze über Sitten und Gebräuche in Tibet aufklären. Traditionell tibetisch Essen kann man hier, eine Folkloregruppe führt dazu tibetische Tänze und Gesänge auf und auch das traditionelle Landleben wird gezeigt. Ein Kloster ist originalgetreu aufgebaut, auf vielen bunten Rollbildern wird die Geschichte Tibets und die Entwicklung der Religion nacherzählt. Der aktuelle Dalai Lama, der im Exil im indischen Dharamsala lebt, ist in der Bilderreihe allerdings nicht enthalten. «Politische Gründe», sagt die tibetische Führerin. Sie hofft allerdings, dass diese Reihe irgendwann einmal vervollständigt werden kann. Ihren chinesischen Gästen ist das gleichgültig. Der Religionskurs im Schnelldurchgang hat sie gefordert. Da sitzen sie doch lieber im Gästezelt und spielen Mahjong, das klassische chinesische Brettspiel.
Noch ist nicht alles Folklore in Tibet: Das Jokhang-Kloster ist das ältetse in Lhasa, es stand schon, bevor die Stadt überhaupt gegründet wurde. Hier werden die ältesten und einige der heiligsten Schriften und Figuren des tibetischen Buddhismus aufbewahrt. Entsprechend begehrt ist der Zutritt, nicht nur für Touristen. Hier verschaffen sich endlich auch dei Gläubigen den nötigen Respekt, so gut es geht jedenfalls. Schon früh am Morgen drehen sie ihre Runden um das Kloster, Jung und vor allem Alt in dichter Reihe und zügigem Schritt. Nur im Slalomlauf und mit mancher Rempelei ist dieser Menschenstrom zu queren. Vor dem äusseren Eingangstor werfen sich Pilger bäuchlings in den vom nächtlichen Regen noch feuchten Staub. Die Steinplatten sind von dieser Jahrhunderte alten Glaubensbezeugung schon ganz blank poliert. Manche Gläubige sind auf diese Art schon tausend Kilometer weit hergepilgert.
Im Innenhof wartet in einem kleinen Holzverschlag ein Mönch auf die Bezahlung des Eintritts. Ein zweiter, noch viel engerer Flaschenhals tut sich auf: Auch durch die dunklen Räume kreist ein ununterbrochener Pilgerstrom. Ein alter Mann in schwarzem, filzähnlichen Umhang dreht seine Gebetsmühle ohne Unterlass. Mit fast geschlossenen Augen lässt er sich durch die Gänge schieben, leise murmelt er seine Gebete. Die Frau an seiner Seite scheint ebenso versunken. Sie trägt, wie fast alle Frauen auf der Pilgerreise, ihr traditionelles Gewand: ein dunkelgrünes langes Kleid und die typische, weiss-bunt gestreifte Schürze. Die langen grauen Haare hat sie zu einem Zopf geflochten und mit einem hellblauen Band um den Kopf geschlungen. Um den Hals trägt sie eine Kette mit dicken Perlen aus Türkisen und Korallen. Sie drückt eine Kanne mit warmer, flüssiger Yakbutter an ihre Brust, um sie vor den Stössen im Gedränge zu schützen – die Treppenstufen sind schon ganz glatt von mancher verschütteten Opfergabe. Plötzlich schlägt sie die Augen auf und schaut mit strahlendem Blick in die Runde. Das Gedränge scheint ihr nichts auszumachen, im Gegenteil: Sie wirkt stolz darauf, dass so viele Menschen ihr Pilgererlebnis teilen. Immer wieder klingelt ein Handy und ein Chinese erzählt den daheim Gebliebenen lautstark von seinen Eindrücken.
Auf dem Platz vor dem Kloster und in den Strassen rundum haben sich hunderte Souvenirstände ausgebreitet. Doch neben Schmuck, Dolchen, Tüchern und Buddhastatuen für die Touristen bieten fast ebenso viele Stände Waren für die Pilger: Filzähnliche Stoffe liegen in dicken Ballen, weinrote Mönchsgewänder hängen auf Kleiderbügeln, Yakbutter gibt es vor allem in fester Form in Tüten, den Löffel zum Verteilen auf die Butterlampen gibt es dazu. Am Rande dieses wuseligen Treibens hat sich ein weiteres käufliches Gewerbe niedergelassen: Junge Frauen bieten in schmalen Eingängen schon am frühen Morgen ihre eher unheiligen Dienste an. Direkt davor warten die Busse, die die Touristen zum nächsten Höhepunkt bringen. Die Prostitution hat mit dem Aufschwung des Tourismus deutlich zugenommen, sagen Fachleute, die Lhasa schon aus früheren Tagen kennen.
Auf die weisse Aussenmauer eines Klosters, irgendwo, hat jemand «Free Tibet» geschrieben. Die Schrift ist verblasst, aber immer noch gut lesbar. Kaum zu glauben, dass hier niemand Englisch versteht. Gehört der Widerstand etwa auch schon zur Folklore?

«Ich hätte den Dalai Lama verleugnen müssen, das habe ich abgelehnt»

Besuch des Zentrums für tibetische Flüchtlinge in Kathmandu

Das Empfangszentrum für tibetische Flüchtlinge liegt malerisch in den grünen Hügeln am Stadtrand von Kathmandu. Im Osten blinken die vergoldeten Spitzen der Swayambhunath-Pagode, eines der Wahrzeichen der nepalesischen Hauptstadt. 3504 Flüchtlinge sind hier im vergangenen Jahr angekommen. Ob es in diesem Jahr wieder so viele werden? Direktor Lhoudup Dorjee hebt abwägend die Schultern. «Das hängt auch von der Lage in Tibet ab.» Dieses Jahr zum Beispiel kommen vermehrt junge Tibeter. Die chinesische Regierung hat angekündigt, tibetische Schulabgänger hätten ohne gute Chinesischkenntnisse keine Chance auf einen Job – in ihrer eigenen Autonomen Region.
Die Grenze zwischen Nepal und China ist lang, es gibt viele Übergänge für Flüchtlinge aus Tibet. Gefahrlos ist die Flucht nach Nepal deshalb aber noch lange nicht. Tsoklam, 25 Jahre alt, kann davon berichten. Zusammen mit 20 weiteren Tibetern ist er erst vor zwei Tagen im Empfangszentrum angekommen. Blass, mit eingefallenen Wangen sitzt er auf dem Sofa im Büro von Direktor Dorjee. Doch seine Augen strahlen: Das Schlimmste hat er wohl hinter sich. Hier ist seine Geschichte:
«Mein Dorf liegt in der Nähe von Lhasa. Die Chinesen haben es als Vorzeigedorf ausgewählt. Sie haben enorm in die Infrastruktur investiert, sie haben neue Strassen und neue Häuser gebaut. Aber wer die tibetische Kultur leben will, hat es schwer. Ich bin Mönch, bei uns im Dorf gibt es nur ein kleines Kloster. Man kann dort meditieren, aber die Philosophie unseres buddhistischen Glaubens lehrt man dort nicht. Ich wollte deshalb in eines der grossen Klöster wechseln, aber dafür brauchte ich die Genehmigung der chinesischen Behörden. Sie haben sie mir verweigert: Ich hätte den Dalai Lama verleugnen müssen, das habe ich abgelehnt. In den Klöstern werden die Mönche gezwungen, chinesischen Patriotismus zu vertreten: Gelehrt werden muss die chinesische Version unserer Geschichte und unsere Religion so, wie die Chinesen sie interpretieren. Nur wer sich fügt, bleibt unbehelligt. Unseren wahren Glauben können die Mönche nur heimlich weitergeben. Ich bin geflohen, weil ich trotzdem buddhistische Philosophie studieren will.
21 Flüchtlinge hat unser Fluchthelfer über die Grenze gebracht. 4000 Yuan (630 Franken) habe ich bezahlt. Er pferchte uns auf der Pritsche eines kleinen Lastwagens zusammen und deckte uns mit einer Plane zu. Es war stockfinster, wir wussten nie, wohin wir fuhren. Die Fahrt Richtung Grenze verlief ohne Probleme, nur einmal bei Lhatse mussten wir aussteigen und zu Fuss einen chinesischen Kontrollposten umgehen. 48 Stunden dauerte die Fahrt, dann erreichten wir Nyalam, den letzten tibetischen Ort vor der Grenze zu Nepal. Wir stiegen allerdings ein bisschen früher aus, denn im Ort werden die Fahrzeuge noch einmal scharf kontrolliert. Wir umgingen Nyalam und suchten uns seitwärts von der Strasse einen eigenen Weg durch das Unterholz, weil weiter vorne noch einmal ein Posten der chinesischen Armee wartete. Die Grenze ist bewacht, aber wir hatten Glück. Wir liefen die ganze Nacht, aber dann am Morgen kamen wir an ein Dorf und erkannten, dass wir bereits in Nepal waren.
Wir erholten uns ein bisschen und liefen in der kommenden Nacht weiter. In einem Kloster bekamen wir etwas zu essen. Zwei Tage gingen wir, bergauf, bergab, der Dschungel wurde fast undurchdringlich, Dornen und spitze Äste zerissen unsere Kleider. Irgendwann konnten wir nicht mehr, wir hatten alle Blasen, die Füsse waren blutig. Wir waren nun fünf Tage unterwegs und nur noch müde und erschöpft. In einem kleinen Dorf konnten wir ein bisschen ausruhen.
Glücklicherweise erreichten wir am nächsten Tag eine Piste, auf der auch Busse fuhren. Doch der Weg war schlecht, der Regen und Erdrutsche hatten immer wieder grosse Abschnitte zerstört. Als wir am nächsten Tag endlich an eine Teerstrasse kamen, hielt unser Bus und wartete auf weitere Passagiere. Es kam eine Gruppe nepalesischer Soldaten.
Sie kontrollierten uns und als sie merkten, dass wir aus Tibet geflohen waren, nahmen sie uns fest und brachten uns nach Kathmandu zur Einwanderungsbehörde. Dort sperrte man uns ein und drohte, uns wieder nach China zurückzuschicken. Zweieinhalb Tage verbrachten wir dort in Angst und Ungewissheit. Die Aussicht, von den Chinesen geschlagen und ins Gefängnis geworfen zu werden, zerrte an unseren Nerven. Dann hörten wir von den tibetischen Helfern hier in Kathmandu, dass wir nicht abgeschoben, sondern erst einmal wegen illegalen Grenzübertritts in Nepal ins Gefängnis kämen. Das war uns egal, wir waren erleichtert, nicht nach China zurück zu müssen.
23 Tage sassen wir in Haft. Wir wurden genauso behandelt, wie die anderen Gefangenen auch: 26 Männer waren in einem Raum zusammen gesperrt. Nur das Essen ist uns nicht bekommen: Immer nur Reis mit Linsen und vor allem viel Chili – das sind wir nicht gewöhnt.
Hier im Zentrum habe ich erst einmal meine Eltern informiert. Sie haben von meiner Flucht nichts gewusst und waren trotz aller Sorge froh, mich in Sicherheit zu wissen. Ich weiss nicht, ob ich sie und meine drei Schwestern jemals wiedersehe. Ich hoffe, alle Tibeter werden sich eines Tages wiedervereinen. Wenn nicht, wird es schwer für mich, noch einmal nach Tibet zu kommen. Jetzt gehe ich erst mal nach Dephung, das liegt in Südindien. Dort gibt es ein Kloster, in dem ich tibetische Philosophie studieren kann.»
So einfach, wie Tsoklam erzählt, war es keineswegs, die Tibeter aus nepalesicher Haft frei zu bekommen. «Wir mussten für jeden eine Busse von 7500 Rupien (etwa 130 Franken) zahlen», erläutert Lhoudrup Dorjee. Und vor allem: Das UNHCR (Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen) musste garantieren, dass die 21 Tibeter nicht in Nepal bleiben. Unter dem Druck des grossen Nachbarn im Norden fährt auch Nepal seit einigen Jahren einen schärferen Kurs gegen tibetische Flüchtlinge. Nicht jeder hat Glück wie Tsoklam. Immer wieder hört man von Flüchtlingen, die gefasst und gleich an der Grenze wieder den Chinesen übergeben werden. Ihr weiteres Schicksal ist unbekannt.

Zwei Versionen der Geschichte

Tibet gilt als das Dach der Welt. Die durchschnittliche Höhe der Autonomen Region Chinas liegt über 4000 Meter. Der Mount Everest, der höchste Berg der Welt, bildet zusammen mit weiteren Achttausendern die gemeinsame Grenze mit Nepal. Am Nordrand des Himalaya gelegen, ist Tibet das Wasserschloss Asiens, viele mächtige Flüsse entspringen hier: Indus, Brahmaputra, Jangtse, Salween, Mekong, Gelber Fluss. Weite Hochebenen prägen das Land, aus denen unvermittelt die Berge aufragen. Lhasa, die Hauptstadt Tibets, liegt über 3600 Meter hoch.
Die Geschichte Tibets wird in zwei Versionen erzählt: Die Exiltibeter um den Dalai Lama sehen Tibet seit jeher als eigenständiges Land, das mal mehr, mal weniger intensive Beziehungen zum Kaiser in Xian und Peking unterhielt. 1913 hatte sich Tibet unter tätiger Mithilfe der britischen Kolonialregierung im südlichen Indien für unabhängig erklärt. Völkerrechtlich ist diese Erklärung allerdings nie anerkannt worden.
China dagegen betrachtet Tibet als seit 700 Jahren fest zum Reich der Mitte gehörend. Die militärische Besetzung des Landes 1951 und die Niederschlagung des Aufstandes 1959 sieht China als «friedliche Befreiung», obwohl bei den Kämpfen tausende Tibeter starben und hunderttausend zur Flucht gezwungen wurden, unter anderem der Dalai Lama.
Tatsächlich war Tibet damals ein theokratischer Feudalstaat, in dem buddhistischer Klerus und Adel den Grossteil der Bevölkerung in Abhängigkeit und Leibeigenschaft hielt. Der Dalai Lama lebt heute mit seiner Exilregierung in Nordindien. Für Tibet fordert er weitestgehende Autonomie, die Wiederherstellung des Landes in den alten Grenzen – China hat weite Teile des alten Tibet Nachbarprovinzen angegliedert – sowie demokratische Reformen. Die chinesische Regierung in Peking betrachtet den Dalai Lama als Verräter des Vaterlandes.
Der völkerrechtliche Status Tibets ist umstritten. Die internationale Staatengemeinschaft sieht Tibet als Teil des chinesischen Staates, unterstützt aber den Anspruch auf Autonomie, insbesondere im religiösen und kulturellen Bereich. Die Exilregierung Tibets wird nicht anerkannt, der Dalai Lama nur in seiner Eigenschaft als religiöser Führer wahrgenommen.
www.tibet.de/tib/tibu/1998/tibu44/44tibet.html
www.igfm-muenchen.de/tibet/tibetstart.html
www.china-botschaft.de/det/zt/sjwj/t94309.htm
http://de.wikipedia.org/wiki/Tibeter

 

Mit dem Zug aufs Dach der Welt

Seit dem ersten Juli ist sie in Betrieb, die Eisenbahn nach Lhasa, der höchste Schienenstrang der Welt. 272 762 Passagiere sind in den ersten beiden Monaten bereits mit dem Zug gefahren.
Auch nach zwei Monaten hat sich bei den Angestellten der Qinhai-Tibet-Eisenbahn noch keine Routine eingestellt, sie sind sich der Bedeutung ihrer Linie sehr bewusst: Als Pioniertat wird der Bau der höchsten Eisenbahnlinie der Welt gewürdigt, bei der technische Probleme ohne Ende bewältigt werden mussten, verursacht zum einen durch die grosse Höhe – ein grosser Teil der Strecke liegt höher als 4500 Meter –, zum anderen durch den ständig gefrorenen Boden, den Permafrost, der durch den Bahnbetrieb aus dem ökologischen Gleichgewicht zu kippen drohte.
Stilvoll inszenieren die Bahnangestllten die Abfahrt: Auf dem Bahnsteig in Xining, der Hauptstadt der nördlich von Tibet gelegenen chinensischen Provinz Qinhai, liegt eine Fussmatte. Sie soll offensichtlich die Feuchtigkeit drausssen halten, in Xining regnet es zum Abschied. Bei der Abfahrt pünktlich um 20.07 Uhr steht die Schaffnerin innen vor der Glasscheibe der Tür und salutiert in perfekter Haltung nach nirgendwo. «Es ist ein Traumjob», sagt Zugchef Luo Lei. «Die Kollegen auf anderen Linien beneiden uns.»
Das Erstklassabteil ist komfortabel. Vier Betten, jeweils zwei übereinander, bieten ausreichend Raum. In der dritten Klasse, das stellt man später beim Rundgang durch den Zug fest, drängen sich auf gleichem Platz zehn Passagiere. Die Kissen sind frisch und weiss bezogen, am Fussende jedes Bettes zeigt ein Flachbildschirm schon mal die Attraktionen der Reise – auch die, die wir in der Nacht verpassen. Ein grosser See bietet Zuflucht für unzählige Vögel, Antilopen jagen über die Steppe, Adler lauern scheinbar bewegungslos schwebend in grosser Höhe auf Beute. Doch ausser den Yaks, den tibetischen Hochlandrindern, sind am nächsten Tag keine Tiere zu sehen. «Für die Antilopen kommen Sie zu spät», sagt Luo Lei. «Die sieht man nur von Mai bis Juli.» Langsam verschwinden die Leuchtreklamen von Xining, der Zug taucht ein in die endlose Dunkelheit der Steppe.
Morgens um sieben, nach einer traumlos verschlafenen Nacht, strömen sanft chinesische Flötenklänge aus den Lautsprechern. Ein Viertelstunde später erreicht der Zug Golmud, die letzte grosse Station auf dem langen Weg nach Lhasa. Hektik auf dem Bahnsteig, nach der langen Nacht wollen sich die Passagiere in der kühlen Morgenluft die Füsse vertreten. Horizont so weit das Auge reicht. Nur im Süden ragt ein kleines, aber schroffes Gebirge aus der Ebene.
Am Gepäckwagen versorgen Träger die neue Fracht. Vorne verschwindet die Lokomotive, die den Zug bis hierher geschleppt hat, hinter einigen Bahnschuppen. Sie räumt ihren Platz für eine neue Kombination: Drei grosse Dieselloks hintereinander werden die 16 Waggons über den 5072 Meter hohen Tanggula-Pass nach Lhasa ziehen. Die Chinesen haben dieser Kombination den Namen «Heiliges Schiff auf dem Schneegebiet» gegeben.
Das Frühstück wird im Speisewagen serviert – ein klassenloses Einheitsmahl für alle hungrigen Passagiere, die sich nicht selbst versorgen: grüner Tee, frittierte Toaststückchen, ein aufgeschnittener weisser Teigball und Gemüse. Spätestens nach einer halben Stunde wird der Tisch abgeräumt, es wird schichtweise gegessen. Damit das Chaos sich in Grenzen hält, bekommen die Erstklass-Passagiere ihre Zeiten für das Mittagessen zugeteilt – ein kleiner Rest Sozialismus hat sich im vom Kapitalismus durchdrungenen China doch noch erhalten. Für Ausländer ist das System gewöhnungsbedürftig, in Peking überlegt man deshalb bereits, einen – natürlich teureren – Tourismuszug auf die Gleise zu setzen. Der soll dann auch – ein weiteres kleines Manko, wie sich bei der Fahrt herausstellt – an einigen ausgewählten Stationen anhalten und Fotos ermöglichen, sagt Zhu Zhensheng, Vizedirektor der Qinhai-Tibet Eisenbahn. Fotografieren kann man bislang nur durch die nicht immer ganz sauberen Zugfenster.
Motive gibt es reichlich: Vor allem die endlose Weite fasziniert, über die sich bis zum Horizont ein intensiv blauer Himmel wölbt. Viele kleine Wasserläufe durchziehen die Steppe, oft wird erst beim Überqueren deutlich, wie tief sie sich in den Untergrund gespült haben. Bald einmal tauchen die ersten Schneeberge auf, wunderschöne namenlose Kegel, die bald wieder in der Ferne verschwinden. Doch die Hügel rücken näher, durchzogen von tiefen Erosionsrinnen. Nur selten sieht man ein paar Häuser, ein kleiner Stausee produziert Strom, ein Kamin, aus dem dunkler Rauch quillt. Was wird hier produziert? Eine Wagenspur verliert sich in einem Seitental.
Nach gut 100 Kilometern erreicht die «Himmelsbahn» – noch so ein Name, den die Chinesen erfunden haben – die magische Höhengrenze von 4500 Metern, die sie die nächsten rund zehn Stunden auch nicht mehr unterschreiten wird. Magisch ist sie aus zwei Gründen: Einmal beginnt jetzt der Permafrost. Entlang dem Gleisbett ragen Kühlstäbe zwei Meter aus dem Boden, deren anderes Ende neun bis zwölf Meter tief in der Erde steckt. Sie arbeiten mit einem Kühlmittel, dass auf Temeraturunterschiede empfindlich reagiert und bei Erwärmung des Bodens dafür sorgt, dass er wieder abgekühlt wird, erläutert Zhu Zhensheng. Würde der gefrorene Bodene auftauen, wäre das für die Bahn fatal: Die Stützen und mit ihnen das Gleisbett verlören im Morast ihren Halt. In kritischen Zonen hat man den Boden zusätzlich mit Steinplatten abgedeckt, um eine Erwärmung zu verhindern. Gleichzeitg schützen sie die Gleise gegen Sand und Schnee, die der ewige Wind auf dem Hochplateau ständig vor sich her treibt.
Magisch sind die 4500 Meter aber auch für das Wohlergehen der Passagiere. Zwar reichert man im Zug die Luft mit Sauerstoff an, an vielen Plätzen stehen zusätzlich Sauerstoffduschen bereit. Doch den niedrigen Luftdruck kann man so nicht ausgleichen. Die Folge: Bei vielen Passagieren und auch beim Personal stellen sich Kopfschmerzen ein, die sich im Ernstfall zum Hirnödem auswachsen können, das unbehandelt zum Tode führt. «An der Höhenkrankheit gestorben ist bisher noch keiner», zieht Zugchef Luo Lei eine erste Bilanz. Ernste Fälle werden im Sanitätswagen behandelt, für absolute Notfälle stehen Militärhospitäler bereit.
Je höher der Zug kommt, desto ruhiger wird es. Gab es am Vormittag noch ein grosses Hin und Her in den Gängen, schauen sich am Nachmittag nur noch wenige die anderen Fahrklassen an. Die dritte Klasse besteht aus einfach Polsterbänken. Viele Tibeter drängen sich hier. Die Nacht scheint hier deutlich weniger bequem, eine Frau verträumt den Tag, den Kopf an die Schulter ihres Mannes gelehnt, Kinder liegen quer. In einer Schale warten die Reste eines Lammgerippes auf ihre Entsorgung. Daneben stehen die unvermeidlichen Gläser mit grünem Tee. Ein junges Paar hat sich aus Säcken in der Nische hinter der Abteiltür einen etwas komfortableren Schlafplatz gebastelt. Die Ablagen quellen über von Kisten, Koffern und Taschen. Es riecht nach Fussschweiss.
Und doch: Der Zug ist die erste preiswerte und rege genutzte Möglichkeit für die Tibeter, Verwandte in den Nachbarprovinzen oder in den grossen Städten an der Küste zu besuchen – und für die Chinesen aus dem Inland, nach Tibet zu reisen und vielleicht zu bleiben.
Tibet boomt, die Löhne dort sind höher  und Wu Yingjie, Vizeregierungschef der Autonomen Region Tibet, macht keinen Hehl daraus, dass die Bahn auch Han-Chinesen ins Hochland locken soll. Bislang fahren dreimal täglich Personenzüge hin und zurück, dazu kommt ein Güterzug in beide Richtungen. Nach Lhasa transportiert er Getreide und Baumaterialien, an die Küste bringt er Kupfer, Chromeisen und andere wertvolle Metalle. Kritiker fürchten die Ausbeutung Tibets – und zugleich die Überfremdung Lhasas durch Han-Chinesen. Vielleicht nicht ganz zu Unrecht: Schon ab Oktober fahren weitere Direktzüge von Schanghai und Kanton, ein weiterer Güterzug ist ebenfalls geplant. Für ausländische Touristen entfällt dann ebenfalls die bisher nötige Sondergenehmigung für die Reise nach Tibet.
Den Tanggula-Pass, 5072 Meter hoch, überquert der Zug am späten Nachmittag, ein relativ unspektakuläres Ereignis. Eine leichte Erhebung in der Hochebene, die jeder Passagier verpasste, machte ihn nicht ein Durchsage darauf aufmerksam. Der blaue Himmel hat schon länger dunklen Wolken Platz gemacht, hier geht der Regen plötzlich in schweres Schneetreiben über. Die Steppe wird schnell weiss. Doch 100 Meter tiefer ist der Spuk schon wieder vorbei. In Amdo, dem ersten Halt nach Golmud, an dem die Passagiere auch kurz aussteigen dürfen, prasselt Hagel auf den Bahnsteig.
Noch vier Stunden sind es bis Lhasa. Nach 22 Stunden Bahnfahrt wird auch die schönste Landschaft eintönig, werden die Ausrufe beim Auftauchen einer Yak-Herde am Rande der Gleise seltener. Es ist schon längst dunkel, als sich der Zug langsam in den neuen Bahnhof von Lhasa schiebt, der so riesengross ist, dass er weit mehr als die bisher geplanten Züge verkraften könnte. Seine leicht angeschrägten Aussenwände sind in weinrot und weiss gehalten. Ganz so wie der Potala-Palast, früher der Sitz des Dalai Lama, der von der anderen Talseite im Scheinwerferlicht herüberstrahlt.


Zahlen und Fakten
Fünf Jahre haben etwa 30 000 Bauarbeiter an der höchsten Eisenbahn der Welt gebaut. 1142 Kilometer Gleise haben sie dabei verlegt – was sich einfacher anhört, als es war: Die Bedingungen in der grossen Höhe – mehr als 900 Kilometer liegen höher als 4500 Meter – bescherten den Arbeitern besondere Strapazen und den Ingenieuren besondere Herausforderungen. 40 Arbeiter starben, allerdings nicht bei den Bauarbeiten selber, sondern bei Verkehrsunfällen: Ein Teil der Baumaterialien musste über die teilweise parallel zur Bahnlinien verlaufenden Strasse angeliefert werden.
33 Milliarden Yuan (5,2 Milliarden Franken) hat China für die Bahn ausgegeben, teuer zu stehen kamen vor allem die zahlreichen Brücken und Tunnel sowie die Absicherung des Gleisbettes auf dem Permafrostboden. Aber auch für den Umweltschutz wurde Geld ausgegeben, darauf legen die Betreiber grossen Wert: Allein auf dem südlichsten Abschnitt zwischen dem Tonggula-Pass, dem mit 5072 Metern höchsten Punkt der Strecke, und Lhasa wurden 33 Übergänge für Wildtiere geschaffen.
Ein weiterer Kostenpunkt galt der Information der Anwohner: Vor allem die Hirten mussten darüber informiert werden, dass sie mit ihren Schaf- und Yakherden die Gleise nicht mehr betreten, sondern den Bahnkörper nur noch an den in grösseren Abständen eingebauten Tunneln queren dürfen. Ein Yak auf den Schienen könnte für den Zug, der mit 80 bis 100 Kilomtern pro Stunden unterwegs ist, fatale Folgen haben. Stahlzäune, die derzeit zusätzlich noch an der Strecke installiert werden, sollen das verhindern helfen.
Im Juni 2001 wurde mit dem Bau der Strecke zwischen Golmud und Lhasa begonnen. Die Gleise bis Golmud waren schon 1984 verlegt worden. Am 1. Juli 2006 wurde die neue Strecke feierlich eröffnet.

Preise:
Die Strecke Peking - Lhasa, 4064 Kilometer, kostet in der 3. Klasse (nur Sitzplatz)  389 Yuan (62 Franken), in der 2. Klasse (Sechsbett-Abteil) 813 Yuan (129 Franken) und in der 1. Klasse (Vierbett-Abteil) 1262 Yuan (200 Franken); Xining – Lhasa, 1956 Kilometer, kosten in der 3. Klasse 226 Yuan (36 Franken), in der 2. Klasse 523 Yuan (83 Franken) und in der 1. Klasse 810 Yuan (128 Franken).