Heiner Hiltermann, Journalist und Autor

Morgens kurz nach Sonnenaufgang ziehen die Mönche durch die Strassen. Schweigend schreitet die orange Prozession an knieenden Frauen vorbei, die Reis, Gemüse, Obst in die Essensschalen der Mönche löffeln. Gesprochen wird nicht. Für die Frauen ist es eine Art Gnade, die Mönche verpflegen zu dürfen. Luang Prabang ist berühmt für den Aufmarsch der Mönche, jeden Morgen werden sie erwartet von hunderten Touristen mit grossen Teleobjektiven. Aber auch in jeder Kleinstadt mit einem Kloster ziehen die Mönche morgens los, drei, vier, fünf, die Klöster sind selten sehr gross. Doch jedes Dorf hat seinen meist schön renovierten Tempel, seit die kommunistische Regierung Anfang der 1990er Jahre begonnen hat, den Buddhismus nicht länger als Opium für das Volk zu verteufeln. Seit damals hat die Regierung auch immer mehr mehr Privatwirtschaft gestattet und Auslandsinvestitionen zugelassen. Mittlerweile ist Laos Mitglied der Welthandelsorganisation WTO und verzeichnet höhere Wachstumsraten als China.
Trotzdem zählt Laos laut UNO noch immer zu den ärmsten, am wenigsten entwickelten Ländern der Welt. Doch wenn man durch das Land fährt, sieht man von der Armut wenig: Die Städte und Dörfer sind sauber, überall wird gebaut, die meisten Häuser solide, die Strassen, ausser in den Bergen, in ordentlichem Zustand. Slums? Bettler? Hungerkinder? Fehlanzeige!
Die meisten öffentlichen Gebäude sind gerade renoviert worden, die Villen aus der Kolonialzeit erstrahlen in altem Glanz. Wenn man an Schulen vorbei fährt, sind diese durchgängig in gutem Zustand. Und auf dem Hof parken jede Menge Motorräder. Die kommen aus China, sind schwach motorisiert und nicht teuer. Aber die umgerechnet rund 670 Euro (wenn wir den Preis richtig verstanden haben) liegen nicht weit unter dem jährlichen Einkommen eines jeden Laoten von 925 Euro. Auch viele Frauen, vor allem im bergigen und als besonders arm geltenden Norden fahren so eine Maschine. Und als wir auf der Fahrt nach Phongsaly ganz nah am chinesischen Grenzübergang vorbei kommen (den wir nicht passieren dürfen), steigt eine Gruppe Laoten in den Bus, die Hände voll mit Einkaufstüten aus dem Nachbarland. Aus einer purzelt gleich ein funkelnagelneues i-Phone. Wie können die sich das leisten?
Eine Gehstunde hinter Phongsaly liegt ein kleines Dorf, das auf den ersten Blick wirklich arm erscheint: Die Strasse ist eine staubige, zerfurchte Piste, Bergstürze lassen nicht einmal mehr Fouwheelern Platz. Viele Häuser sind einfache Bretterverschläge, die Gärten klein und mühsam dem steilen Hang abgerungen. Trotzdem parkt vor jedem zweiten Haus ein Motorroller. Eine Stromleitung ist offensichtlich schon vor einer Weile hierher gelegt worden: Überall sind Satellitenschüsseln in Position gebracht, in den Wohnräumen laufen Fernseher. Und am Rande des Dorfes steht ein grosser Sendemast, der die Handysignale überträgt. Sieht so heute Armut aus?
Unser Augenschein entspricht nicht den offiziellen Zahlen von UNO und Weltbank: 27,6 Prozent der Menschen in Laos leben unterhalb des Existenzminimums, 31,6 Prozent der Kinder unter fünf Jahren sind untergewichtig, 27,3 Prozent der Menschen älter als 15 Jahre können nicht lesen und schreiben. Unser Eindruck ist flüchtig und täuscht womöglich: Nur 34,3 Prozent der Laoten leben in Agglomerationen. Die Lebensbedingungen der anderen 65,7 Prozent haben wir nicht gesehen. Wir können sie uns nur vorstellen. Sonst zählte Laos nicht zu den am wenigsten entwickelten Ländern der Welt.

Text: © Copyright Heiner Hiltermann, Fotos: © Copyright Melli Fleig und Heiner Hiltermann