Heiner Hiltermann, Journalist und Autor

Wir sitzen auf der Terrasse unseres Gästehauses in Muang Sing im Norden von Laos und blicken auf den Schwarzwald. Nur dass in der Ebene statt Mais Reis gedeiht und die Kammlinie am Horizont schon zu China gehört.
China ist nah und die Chinesen sind allgegenwärtig. Im Hof unserer Unterkunft parken vier Limousinen aus dem Reich der Mitte, an der Grenze von Thailand drängeln sie zu hunderten, die Schilder auf den Strassen, die vor scharfen Kurven, steilem Gefälle oder sonst einer Gefahr im Verkehr warnen, sind dreisprachig  angeschrieben – Chinesisch steht ganz oben. Für die Menschen aus dem Süden Chinas ist der Norden Laos ein willkommenes Naherholungsziel während des chinesischen Neujahrsfestes. Hotels und Restaurants beim kleinen südlichen Nachbarn sind voll darauf eingerichtet – eine neue Erfahrung für europäische Touristen.
Die Landschaft ist schön, ein schroffes, oft noch mit Urwald bestandenes Mittelgebirge. Und das Land hat auch sonst eine Menge zu bieten, was die Chinesen interessiert. Die Ernte ist gerade vorbei und immer wieder blockieren bis obenhin mit Reis beladene Vierzigtonner die engen Strassen Richtung chinesische Grenze. Das Holz aus den letzten Urwäldern ist ebenfalls begehrt. Zudem haben chinesische Investoren laotische Bergbauern überredet, nicht länger Trockenreis auf brandgerodeten steilen Feldern zu pflanzen, sondern Kautschuk. Vor allem Chinas wachsende Autoindustrie giert nach dem Naturprodukt. Ganze Hügelketten in Strassennähe sind mittlerweile mit Kautschukbäumen bepflanzt.
Von der holprigen Piste führt ein lehmiger Fußpfad steil den Berg hinauf. Das Dorf ist klein, schnell ist das Ende erreicht. Weiter oben ducken sich nur noch ein paar Hütten in den dichten Wald. Insekten schimmern in den wenigen Sonnenstrahlen, die durch das dichte Blattwerk sickern. Oben plötzlich weitet sich der Blick: Der ganze Hang ist bis ins Tal hinunter abgeholzt. Der Kahlschlag setzt sich auf der anderen Talseite noch ein gutes Stück fort. Hüfthoch stehen die Gummibäume in Reih und Glied auf der ganzen Fläche, im Abstand von etwa zwei Metern. Ein paar Jahre noch können die Bauern Reis zwischen den jungen Gummisetzlingen anpflanzen, dann werden die Bäume zu gross und nehmen dem Reis das Licht.
Für die Bauern ist der Kautschukanbau ein Vabanquespiel: Sie müssen mit dem Verkauf des Naturgummis genug Geld erlösen, um ihren Bedarf an Nahrung zu decken. Dazu gehört nicht nur Reis. Die Bauern hatten auf den Feldern auch Bananenstauden stehen und der Urwald hat bislang erheblich zur Ernährung der lokalen Bevölkerung beigetragen. Frösche, Schlangen, Echsen lieferten einen wichtigen Beitrag zur Eiweißversorgung, wilder Bambus ergänzte das Gemüseangebot.

Zudem ist die Kautschukplantage arbeitsintensiv: Morgens muss bei allen Bäumen die Rinde eingeritzt und am Mittag auf einer zweiten Runde die heraus geflossene Milch eingesammelt werden. Die muss dann am Nachmittag mit Hitze und Chemie zu Rohgummi weiterverarbeitet werden. Eine Arbeitskraft pro Hektar braucht man, schätzen Fachleute. Manche Dörfer haben Probleme, genügend Manpower dafür bereitzustellen.
Laos ist darüber hinaus aber auch ein guter Absatzmarkt für die chinesischen Produkte: Traditionelle Kleidung sieht man kaum noch. Wo früher die farbenfrohen Trachten der Frauen die zahlreichen Bergvölker unterschieden, ist es heute allenfalls die Farbe der Trainingsjacke. 
Morgens um fünf weckt uns Marschmusik. Lautsprecher an jedem zweiten Laternenpfahl übertragen nun zwei Stunden lang Reden zur Lage der Nation und zum Arbeitspensum des Tages an die Bewohner von Phongsaly. Wir sind in Laos, nicht in Nordkorea. Aber hier oben im Norden des Landes wird die sozialistische Tradition offenbar noch hochgehalten. Langsam aber dringt auch hier der Kapitalismus vor: In den Strassen parken reihenweise grosse japanische Fourwheeler, ein 5er BMW fällt auf, mit chinesischem Kennzeichen, ein Porsche Cayenne, ganz ohne Plaketten.

Text und Fotos: © Copyright Heiner Hiltermann