Heiner Hiltermann, Journalist und Autor

Als wir mit dem Minibus in Sa Pa ankommen, steht das Empfangskomitee schon bereit: Zehn, zwölf Frauen drängen sich vor der Schiebetür, begrüssen uns mit "Hallo, wie geht´s? Wo kommt du her? Kaufst du mir ein paar Sachen ab?" Auf unser "vielleicht, später", antworten sie gut gelaunt: "Ja, am Nachmittag, oder morgen, und dann kommst du mit in mein Dorf und übernachtest bei meiner Familie." Sie sind hartnäckig, laufen auf dem Weg zum Hotel nebenher. Sie sind viele, am Bus wartete nur ein Bruchteil. Lässt eine dich ziehen, steht schon die nächste neben dir. Sie sprechen erstaunlich gut Englisch, haben es von den Touristen gelernt. Eine Schule haben sie nicht besucht.
Die meisten Frauen sind Schwarze oder Blaue Hmong, erkennbar an ihrer dunklen Kleidung und ihrer schwarzen oder buntkarierten Kopfbedeckung. Ein paar Rote Dzao sind auch dabei. Sie tragen zu ihrer dunklen, bestickten Tracht ein rotes Kopftuch, dass ihren rasierten Haaransatz besonders betont, offensichtlich ein Schönheitsmerkmal. In den Dörfern in den Bergen um Sa Pa in Nordvietnam leben viele ethnische Minderheiten, die ihre Traditionen noch aufrecht erhalten und damit den Tourismus gekonnt für den Broterwerb nutzen. Die Frauen werden morgens von ihren Männern in die Stadt gebracht, um lokales Kunsthandwerk, vieles "Made in China" zu verkaufen. Agenturen bieten Treks durch die Dörfer, Übernachtung bei lokalen Familien eingeschlossen.

Am Mittag gehen wir in das nahegelegene Hmong-Dorf Cat Cat, wir müssen Eintritt zahlen und kommen in einen überdimensionalen Museumsshop. Vor jedem Haus sitzen traditionell gekleidete Frauen und sticken und weben, auf langen Leinen hängen schöne selbstgefertigte Tücher. Wie im Museumsdorf wird gezeigt, wie das Wasser der Bäche geschickt über Bambusröhren auf die Reisfelder geleitet wird, die in kunstvoll angelegten Terrassen an den Hängen kleben. Wer das Geld für echtes Kunsthandwerk nicht ausgeben will, dem bieten die Einheimischen den selben Souvenir-Ramsch, den auch die Läden in Hanoi verkaufen. Wir haben bald genug.
Am folgenden Tag beschliessen wir, einfach ungeplant und ungeführt eine Strasse entlang zu wandern. Bald kommen wir an eine Abzweigung, an der zwei Frauen der Roten Dzao uns zu überreden versuchen, doch mit ihnen in ihr Dorf zu laufen. Wir sind störrisch und lehnen ab. An der nächsten Kreuzung verkaufen Frauen Tickets für ihr Dorf, es ist halb so teuer wie nach Cat Cat. Wir geben unseren Widerstand auf und beugen uns der Macht des Kommerzes.
Auf dem Weg überholen uns ein paar Touristen auf Motorrollern, ein Minibus quält sich den Hang hinauf. Zwei Frauen kommen von ihren Feldern und begleiten uns ein Stück des Weges. Eine lockere Plauderei beginnt, woher, wohin, ob wir etwas kaufen wollen. Wollen wir nicht, und als die Frauen realisieren, dass wir es ernst meinen, lassen sie uns ziehen.
Endlich erreichen wir das Dorf, zehn Frauen mit roten Kappen umringen einen Minibus, eine zweite Gruppe Frauen sitzt im Schatten und beachtet uns nicht. Wir können uns in Ruhe die Häuser ansehen. Ta Phing ist längst nicht so touristisch erschlossen wie Cat Cat. Viele Männer und Frauen arbeiten in den Reisterrassen. Nur wo unser Weg weiter führt, erschliesst sich nicht von selbst. Wir fragen und erhalten verschiedene Antworten. Ein Mann will uns mit dem Motorrad nach Sa Pa zurück bringen, für einen astronomischen Preis. Wir haben schon zwölf Kilometer in den Beinen und wollen nicht denselben Weg zurück. Also verhandeln wir, aber erfolglos.
Wir laufen einen Weg weiter, ungefähr in die Richtung, in die es unserer Meinung nach gehen müsste. Nach einer Weile kommen uns zwei Touristen entgegen, geführt von einer Hmong-Frau. Bereitwillig gibt sie Auskunft: Wir sind auf dem richtigen Weg, müssen nur weiter oben an einer unübersichtlichen Kreuzung etwas aufpassen. Der Weg sei allerdings mindestens genau so lang wie unser Hinweg. Erleichtert laufen wir weiter, durch kleine malerische Weiler und Reisterrassen, denen man die Mühe ansieht, die ihre Erstellung und ihr Unterhalt bereiten.

Eine Stunde später kommen wir an eine Abzweigung. Geht es hier schon rechts ab? Eine Frau mit rotem Kopfschmuck bemerkt unser Zögern. Nach Sa Pa gehe es hier rechts, wir könnten mit gehen, sie müsse auch dorthin, ihre kranke Mutter im Spital besuchen. Tha Mae ist eher schüchtern, spricht auch nicht so gut Englisch wie die anderen Frauen in Sa Pa. Aber in den drei Stunden, die wir mit ihr unterwegs sind, erfahren wir doch ein Menge über ihr Leben. 45 Jahre alt ist sie, hat vier Kinder, ihr Jüngster ist anderthalb. Sie hat erst mit 21 geheiratet, das bei den Roten Dzao übliche Heiratsalter. Die Hmong-Mädchen dagegen bekommen häufig schon mit 16 Jahren ihr erstes Kind, sagt Tha Mae. 
Zum Souvenirverkauf nach Sa Pa geht sie weniger häufig, sie wird auf den Reisfeldern gebraucht. Wenn sie Zeit hat, näht sie und stickt an ihrer Kleidung. Für ihre Tracht hat sie ein Jahr gebraucht. Ärmel, Säume, Hosenbeine sind mit aufwändigen gelben Stickereien besetzt. Ihre Perlenketten und ihren Silberschmuck trägt sie nur an Festtagen oder wenn sie nach Sa Pa geht. Auf den Acker geht sie einfacher gekleidet.

Nebenbei zeigt sie uns, welches Gemüse angebaut wird, welches essbar und welches nur zum Färben der Kleidung gebraucht wird. Die Teesträucher im Wald hätten wir vermutlich gar nicht bemerkt und auch nicht die Schlange, die plötzlich unseren Weg kreuzt. Tha Mae ist selbst ganz erschrocken und drängt uns ein paar Schritte zurück. Die Schlange sei sehr giftig, man könne an einem Biss sterben. Leuchtend grün verschwindet sie rechts in den Büschen.
Ob es auch bei uns Schlangen gebe, will Tha Mae wissen, ob wir sie essen. Welches Obst und Gemüse bei uns wächst. Sie erzählt nicht nur von ihrem Leben, sie ist aiuch sehr interessiert, von uns über unseren Alltag zu erfahren.

Irgendwann zweigt Tha Mae nach vorne auf einen breiten Weg und erklärt, dort entlang gehe die lange Variante, sie kenne aber eine Abkürzung. Und dann geht es mitten durch die Reisfelder. Wir balancieren über die schmalen Lehmmauern, die die einzelnen Terrassen voneinander trennen, wir queren Brücken, in deren Belag mindestens jedes zweite Brett fehlt. Wir passieren kleine Weiler, die vermutlich nur wenige Touristen zu Gesicht bekommen, die Kinder winken fröhlich.
Nach drei Stunden erreichen wir die Aussenbezirke von Sa Pa, wir müssen geradeaus weiter, Tha Mae nach links zum Hospital. Nächstes Mal, sagt sie, müssten wir mit zu ihr kommen. Sie sei zwar arm, könne kein "Homestay" anbieten, aber für uns schaffe sie Platz. Der Abschied ist warmherzig, Melli und Tha Mae umarmen sich freundschaftlich. Thae Mae steht noch lange und schaut uns nach. Jedes mal, wenn wir uns umdrehen, wirft sie uns Kusshändchen zu.

Text: © Copyright Heiner Hiltermann, Fotos: © Copyright Melli Fleig und Heiner Hiltermann