Heiner Hiltermann, Journalist und Autor

In Vietnam, so scheint es, tragen die Frauen die Last. Überall sieht man sie durch die Strassen hasten, mit grossen Körben voll mit Obst, Gemüse, Reis. Die Körbe hängen an beiden Enden einer flachen, langen Holzstange, die sich die Frauen auf eine Schulter legen. Beim Gehen beginnt die Stange zu wippen. Um das auszugleichen, gehen sie mit einem tänzerischen, fast schwebenden Schritt, die Melli an Pina Bausch erinnert. Doch es ist kein Tanz, den die Frauen aufführen, es ist harter Kampf ums tägliche Brot.
"Hello Sir, Soup?", ruft uns eine Frau entgegen. Sie strahlt uns an, hofft auf ein Geschäft. Ihre beiden Körbe hat sie abgesetzt und drumherum ein kleines Restaurant aufgebaut: sechs, acht niedrige Plastikhocker, vier kleine Tischchen. Vor ihr glüht in einem Metallkessel Holzkohle, darüber brodelt in einem Topf die Suppe. Lauch erkennen wir, Karotten, Zwiebeln, leider auch Fleisch. Bedauernd lehnen wir das Angebot der Frau ab. Doch sie hat schnell Ersatz gefunden. Vietnamesen schätzen offensichtlich die einfachen Strassenküchen.
Während wir der Suppenköchin zugeschaut haben, sind weitere Strassenhändlerinnen an uns vorbei gezogen: Sie verkaufen Blumen, Tomaten, Ananas, Kohl, Salat, Baguette, frittierte Teigringe, Plastikschüsseln, Toilettenpapier, Servietten. Andere sammeln Pappe, Petflaschen, Alu-Dosen, um den Abfall an Recyclingbetriebe zu verkaufen. Eine trägt auf der einen Seite der Stange ein kleines Schränkchen mit Geschirr, auf der anderen einen Korb, in dem eine Porzellankanne untergebracht ist, dick eingepackt in Tücher, damit der Tee nicht so schnell erkaltet. Die Frauen sind jung, viele kaum 20 Jahre alt. Aber man sieht auch alte Frauen mit diesem schwebenden Schritt: Die jahrelange Arbeit auf der Strasse hat ihren Gang geprägt.
Im Frauenmuseum in Hanoi widmet sich eine kleine, gute Sonderausstellung den Strassenhändlerinnen. Sie kommen dort in einem Video selbst zu Wort, schildern ihre Lebensbedingungen. Die meisten kommen vom Land, haben zu wenig Ackerfläche, um ihre Familien ernähren zu können. Oft ist der Mann krank, hatte einen Arbeitsunfall und kann deshalb nichts zum Unterhalt beisteuern. Er kümmert sich stattdessen um die Kinder und zieht ein paar Schweine, Hühner, Ziegen auf. Doch damit, erzählt eine, verdient er umgerechnet nur etwa 45 Euro pro Jahr – zu wenig, um eine Familie zu ernähren.
Eine andere erzählt ihren Tagesablauf: Sie steht um zwei Uhr morgens auf, kauft ihre Ware auf dem Grossmarkt, richtet ihre Körbe und läuft ab sechs Uhr durch die Strassen und bietet Ananas, Bananen, Guaven feil, solange bis die Körbe leer sind. Wenn sie einen guten Tag hat, ist das bis um vier am Nachmittag geschehen. Manchmal aber ist sie bis um sieben Uhr abends unterwegs.
Ist die Ware verkauft, geht sie in ihre Unterkunft, ein Zimmer, dass sich zehn Frauen teilen und für das jede rund 25 Eurocent pro Nacht zahlen muss. Ihre Familien sehen sie nur alle zehn, zwölf Tage. Aber sie können ein bisschen Geld mitbringen, eine nennt 15 Euro. Ob das reicht für das, was sich die Frauen erhoffen? Ihr Verdienst soll ja nicht nur die tägliche Schale Reis sichern. Die Frauen wünschen sich vor allem eine gute Ausbildung für ihre Kinder. Aber die besseren Schulen sind auch im sozialistischen Vietnam privat und entsprechend teuer.
"Als wir jung waren", sagt eine, "haben wir uns das Leben natürlich ganz anders vorgestellt. Aber was sollen wir machen? Wir müssen es annehmen, wie es ist."

Text und Fotos: © Copyright Heiner Hiltermann, Melli Fleig