Heiner Hiltermann, Journalist und Autor

"Unser Loft war das erste in ganz China!" Harry zeigt stolz auf eine grosse Bühne, eine Galerie, ein Café. Vor 15 Jahren haben Harry und seine Frau gemeinsam mit anderen Malerinnen, Musikern, Schauspielern, Tänzerinnen eine alte Fabrikhalle gemietet, um ihre eigenen, alternativen Vorstellungen von Kunst und Kultur zu verwirklichen. In der Halle waren zuvor Auto-Karosserien geformt worden. Im oberen Stockwerk haben ein paar Künstler ihre Ateliers, in der Nachbarschaft haben Galerien Platz gefunden. Heute ist das "Loft" in Kunming eine Institution, zu der die Avantgarde schon wieder eine Alternative sucht.
"Unser Viertel ist schick geworden", sagt Harry. Bars und Restaurants haben sich niedergelassen, einige Künstler haben sich in andere Quartiere zurückgezogen. Nicht zuletzt wegen der gestiegenen Preise: Auch das "Loft" hat eine Mieterhöhung hinnehmen müssen. Harry und seine Mitstreiter wissen noch nicht, wie sie das Geld auftreiben sollen. Vielleicht werden auch sie bald eine andere Bleibe suchen müssen.

Kunming boomt, das ist überall zu sehen. Rund um das "Loft" werden alte Gebäude abgerissen, um Platz zu schaffen für neue, lukrative Immobilien. Aber nicht nur dort, im Südwesten der Innenstadt verändert sich die Stadt. Wohin man schaut in Kunming ragen Kräne in die Luft, werden immer höhere Wolkenkratzer gebaut.
Doch es scheint, als habe man auch in der Stadtverwaltung begriffen, dass alte Quartiere durchaus ihren Charme haben und erhaltenswert sind. Am Vogel- und Blumenmarkt mitten im Zentrum hat man die Abrissbirne offenbar gestoppt und begonnen, die zweistöckigen Handelshäuser zu renovieren.
Aber auch sonst in Kunming können wir durch schöne Wohnquartiere spazieren, in denen die Menschen augenscheinlich gerne leben: Hier kann sich der kleine Laden um die Ecke noch halten, die Marktfrau verkauft auf der Strasse ihren Kohl, in der Garküche brutzelt das Mittagessen. Es herrscht eine entspannte Atmosphäre. Die Menschen flanieren durch die Strassen, lauschen den Musikern, die gerne melodiöse Gitarrenmusik spielen.

Einmal allerdings werden die harmonischen Klänge durch die "Internationale" gestört, die in der chinesischen Version aus grossen Lautsprechern scheppert. Vor einem Shoppingcenter haben die Verkäuferinnen die Eingänge blockiert, sie halten Plakate in die Luft und schauen gespannt auf das Dach eines gegenüber liegenden Hochhauses. An der Kante dort haben sich zwei Männer niedergelassen, die Beine baumeln 30, 40 Meter über dem Abgrund. "Die wollen hinunter springen, wenn der magere Lohn der Mitarbeiter des Kaufhauses nicht aufgebessert wird", erklärt uns eine der Anführerinnen des Streiks, als sie unser Interesse bemerkt. Sie kann kaum Englisch, wir kein Chinesisch, aber mit Händen und Füssen klappt die Verständigung. Die Polizei beobachtet die ganze Aktion aus der Ferne. Am Abend hat sich die Menge zerstreut, die Männer sind nicht gesprungen. Welchen Erfolg ihre Aktion hatte, haben wir nicht erfahren.
Zu Harry und seinem Loft haben wir selbständig gefunden, ohne fremde Hilfe, allein mit der Karte in unserem Reiseführer. Aber das ist die Ausnahme, China ist in Sachen Kommunikation eine Herausforderung. Doch die Menschen sind unglaublich hilfsbereit. Kaum stehen wir suchend an einer Strassenkreuzung, kommt schon jemand, um uns auf den rechten Weg zu bringen. Das klappt, auch wenn das Englisch der meisten Chinesen sehr rudimentär oder gar nicht vorhanden ist, mit Hilfe eines Zettels, auf dem ein kundiger und sehr freundlicher Mensch an der Rezeption unseres Hotels unser Begehr aufgeschrieben hat, in chinesischen Schriftzeichen. Wir haben auf diese Weise sogar den Mann gefunden, der im Hinterhof am Stadtrand in seiner Privatwohnung Fotokameras repariert. Leider konnte er uns nicht helfen.

Text: © Copyright Heiner Hiltermann; Fotos: © Copyright Melli Fleig, Heiner Hiltermann