Abflug

Der Abschied vom Broad Lands fällt schwer – und von den Menschen, die wir hier kennengelernt haben. Die Ausgangssperre hat uns näher zusammen gebracht.

Melli sitzt im Tuktuk, ihren Rucksack zwischen den Knien. Ich wuchte meine Reisetasche auf die Rücklehne und quetsche mich dann zu Melli auf die Bank. Raja verteilt Atemschutzmasken aus Papier und drängt sich dann neben den Fahrer auf den Einzelsitz. Viel Platz ist nicht in diesen Zweitaktern, die unter normalen Umständen die Straßen in Indiens Städten verstopfen. Doch jetzt sind die Straßen in Chennai wie leer gefegt: Es herrscht Ausgangssperre!
Der Fahrer ist nervös, Raja, der Manager im Broad Lands Guesthouse, hat ihn zu der Fahrt überreden müssen. Er soll uns zum deutschen Generalkonsulat bringen, dem Ort, an dem sich die Glücklichen treffen, die eine Zusage für den Evakuierungsflug der deutschen Botschaft am nächsten Morgen bekommen haben. Der Fahrer hat Angst, spätestens auf der Rückfahrt von der Polizei angehalten und schikaniert zu werden. Denn fahren darf man in Ausnahmezeiten nur mit einer Sondergenehmigung – die er natürlich nicht hat. Er willigt schließlich ein, als Raja sich bereit erklärt, uns zu begleiten.

Wir hatten uns schon vor Tagen in die Liste für einen Evakuierungsflug der deutschen Botschaft eingetragen. Von Neu Delhi aus hatten schon zwei Flüge rund 1000 Deutsche und EU-Bürger aus Indien ausgeflogen. Jetzt sollten die anderen großen Städte drankommen: Mumbai, Kalkutta, Hyderabad, Bengaluru und eben Chennai. Für uns gab es mehrere Gründe, unsere für sieben Monate geplante Asienreise abzubrechen und nach Deutschland zurückzukehren: wir glaubten nicht mehr, dass die Krise in wenigen Wochen durchgestanden sei; wir waren in Sorge vor der Stimmungsänderung in der lokalen Bevölkerung – wie sollte das erst werden, wenn die Zahl der Infizierten drastisch ansteigen würde?; und nicht zuletzt zweifelten wir an der Wirksamkeit des indischen Gesundheitssystems – sollte einer von uns sich mit dem Corona-Virus infizieren, schätzten wir unsere Heilungschancen in Deutschland wesentlich höher ein!
Die Nachricht, dass endlich auch ein Flug von Chennai startet, kommt am frühen Nachmittag – und dass wir dabei sind! «Kommen Sie bitte morgen Abend zwischen 18 und 22 Uhr zum deutschen Generalkonsulat», heisst es in der Mail. Und das wir uns selber kümmern müssen, wie wir – trotz Ausgangssperre – dahin gelangen. Das Konsulat hat keinen Einfluss auf die Polizeigewalt in Tamil Nadu. Immerhin: Ein Brief in englischer Sprache und in Tamil ist angehängt, in dem die Botschaft mit Stempel und Unterschrift bestätigt, dass wir einen triftigen Grund für die anstehende Taxifahrt haben: unsere Ausreise!
Merkwürdig: Unsere Freude hält sich in Grenzen. Uns wird nun endgültig bewusst, dass wir unsere Asienreise abbrechen werden. Und ob und wann wir sie fortsetzen können, steht in den Sternen. Was uns beinahe noch mehr trifft, ist der Abschied vom Broad Lands und den Menschen, die wir hier kennengelernt haben: von Stephen aus London, von Manu aus Barcelona, von Bella und Nithin, von Sofia und Asif, von John und Lucia und all den anderen Gästen und von Raja, dem Manager und all den anderen Angestellten – die Ausgangssperre, das gemeinsame Schicksal hat uns näher zusammen gebracht.
Unser Abschied macht schnell die Runde, einige sehen ihn mit Wehmut, andere auch mit ein bisschen Neid. Die Deutschen, so der allgemeine Konsens, organisieren die Evakuierungsflüge mal wieder vorbildlich. Vor allem die Franzosen fluchen auf ihre Botschaft. Stephen bittet uns, im Konsulat ein gutes Wort für ihn einzulegen – er hat sich mit unserer Hilfe auch bei der deutschen Botschaft registrieren lassen und hofft, mit dem zweiten Flug aus Chennai evakuiert zu werden.
Raja hat die Konsulatsbriefe ausgedruckt und fein säuberlich in eine Mappe gesteckt – wir werden sie noch brauchen! Fast eine Woche waren wir nicht mehr vor die Tür gegangen, um so mehr sind wir nun irritiert: Kein Mensch ist auf der Straße, kein Auto, kein Motorrad, kein anderes Tuktuk. Wir ziehen unwillkürlich den Kopf ein.

Die großen Straßen sind abgeriegelt, Barrieren sollen augenscheinlich Aufstände verhindern oder zumindest eindämmen. Unser Fahrer versucht, das Konsulat über Nebenstraßen zu erreichen – keine Chance. Wir müssen im Slalom um die Sperren. Zweimal kontrolliert uns die Polizei. Raja erklärt und zeigt die Briefe. Offensichtlich helfen sie. Später lässt Raja uns per Mail wissen, dass es die zwei auch gut wieder zum Hotel zurück geschafft haben.
Vor dem Konsulat herrscht ein bisschen Andrang, von Sicherheitsabstand ist keine Rede. Nicht mal jeder Zweite trägt eine Atemschutzmaske. Nur das Personal der Botschaft trägt Vollschutz. Als wir an die Reihe kommen, ein Schock: Melli ist nicht registriert! Ihr Pass wird erst einmal auf die Seite gelegt. Wir reklamieren, doch es dauert, bis der Irrtum aufgeklärt ist: Melli ist unter meinem Nachnamen gebucht, nicht unter ihrem!

Die jungen Ausreisewilligen suchen auf der Konsulatswiese größere Nähe

Melli entdeckt die Generalkonsulin und legt ihr Stephens Antrag warm ans Herz und Karin Stoll nimmt sich tatsächlich ein paar Minuten. Zeit ist genug: erst um zwei Uhr morgens holen uns Busse ab und bringen uns im Konvoi zum Flughafen. Am Eingang misst ein Beamter unsere Körpertemperatur. Das Gebäude ist gähnend leer, nur unser Flug wird angezeigt: Start um sieben Uhr.

Yogamatten werden verteilt – Schlaf finden nur wenige

Air India fliegt uns. Dass der Service begrenzt ist, merken wir gleich beim Einsteigen: Die Crew trägt Plastik-Overalls, Masken, Brillen und Hauben für die Haare. Auf jedem Sitz liegt ein kleiner Karton mit Essen und einem Viertelliter Wasser. Die erste Durchsage macht endgültig klar, was wir zu erwarten haben: Die Crew bitte nur bei Sicherheitsfragen belästigen, Service gibt es keinen. Nach Zwischenstopp in Hyderabad (zwei Stunden Aufenthalt, es steigen noch Passagiere zu) und Mumbai (vier Stunden Aufenthalt, niemand steigt zu, niemand aus) geht es Nonstop nach Frankfurt. Um 19 Uhr landen wir.
Wir staunen: kein Empfang mit Fieberthermometer, kein Aufruf, freiwillig für 14 Tage in Quarantäne zu gehen; lediglich an der Gepäckausgabe mahnen zwei freundliche Polizisten, nicht zu sehr zu drängeln. Wir schaffen es gerade noch auf den letzten durchgehenden Zug nach Freiburg. Im Großraumwagen sitzt einsam ein älteres Paar. Der Schaffner hat Zeit für einen kleinen Plausch.
Um 23 Uhr stehen wir vor der Ferienwohnung in der Lise-Meitner-Straße – unsere Wohnung ist ja bis Ende September vermietet. Der Schlüsselsafe entpuppt sich als letzte Hürde, die Ziffern sind im Dunkeln kaum zu erkennen. Nach 30 Stunden Rückreise sinken wir übermüdet ins Bett – und können doch nicht schlafen.

Drei Tage später schickt Stephen eine Mail – aus Frankfurt! Er ist glücklich und bedankt sich überschwänglich dafür, dass wir ihm geholfen haben, den zweiten Flug der deutschen Botschaft von Chennai aus zu erreichen. Vielleicht hat Mellis Fürsprache bei der Generalkonsulin etwas genützt! Stephen übernachtet auf dem Flughafen. Am nächsten Vormittag geht sein Flug nach London.

Text: © Copyright Heiner Hiltermann; Fotos: © Copyright Melli Fleig