Hindu-Ritual

Der Hinduismus ist mit seiner nach Millionen zählenden Götterwelt für Nicht-Eingeweihte nur schwer verständlich. Die Rituale sind dennoch oft schlicht und – jedenfalls oberflächlich – einfach zu begreifen.
Der Shree Mahalaxmi-Tempel in Panaji findet im Lonely Planet-Reiseführer keine Erwähnung, wenngleich seine Größe der der Kathedrale zur unbefleckten Empfängnis kaum nachsteht. Die Kirche ist dem Reiseführer zufolge die größte Attraktion der Hauptstadt des indischen Bundesstaates Goa, gemeinsam mit den noch aus der Kolonialzeit überdauerten portugiesischen Vierteln. Dass nur wenige hundert Meter entfernt ein prächtiger hinduistischer Tempel steht, zwischen Kirche und Tempel noch eine große Moschee, drei Weltreligionen also auf weniger als einem halben Quadratkilometer neben- und miteinander existieren, interessiert die meisten Touristen offensichtlich nicht.
In sakralen Gebäuden, einerlei ob Kirche, Tempel oder Moschee, findet der von Hitze und hoher Luftfeuchtigkeit geplagte Stadtspaziergänger gerne ein schattiges, kühles und ruhiges Plätzchen. Nur durch Zufall entdecken wir den Shree Mahalaxmi-Tempel, einen großen Komplex mit mächtigem Pipal-Baum, zentraler Opferstätte, großem Haupt- und mehreren Nebentempeln. Es herrscht geschäftiges Treiben und bald ist klar: Hier steht demnächst ein größeres Ereignis bevor.
Punkt 12 Uhr öffnet sich das Haupttor und herein rollt ein profaner Kleinlastwagen mit blauer, verschnürter Plane. Wir haben mit einer Limousine gerechnet und einem Guru á la Baghwan. Doch als der Wagen uns passiert, blicken wir auf der offenen Rückseite einem ganz in orange gekleideten Saddhu in die Augen, er mindestens so überrascht wie wir. Er sitzt auf einem Plastikstuhl, das Gesicht dem folgenden Verkehr zugewandt. Der Wagen rangiert rückwärts an eine Stufe auf Höhe der Ladefläche. Der Saddhu ist alt, ein weißer langer Bart ziert sein Gesicht. Vielleicht ist er nicht mehr so gut zu Fuß? Gebückt erhebt er sich und versucht so mühsam wie vergeblich, den Rücken gerade zu strecken. Asketisch wirkt er, ausgezehrt. Aber seine Augen sind hellwach.
Unsere Überraschung wächst, als hinter dem Saddhu eine gepflegte, wohlgenährte Kuh mit einem noch sehr jungen Kälbchen auftaucht. Der Saddhu führt sie ruhig an einem Strick von der Ladefläche, unterstützt von zwei Dutzend gläubigen Hindus. Die Kuh wird zum Pipal geführt und steht fortan im Mittelpunkt des Rituals, das nun beginnt. Öllämpchen und Räucherstäbchen werden vor ihr angezündet, immer wieder werden ihr Tikkas – gesegnete Farbpunkte – auf die Stirn gedrückt. Kleine Glocken erklingen und bald hängen Blumengirlanden um ihren Hals und bunte Tücher über ihren Rücken. Auch das Kälbchen wird geschmückt, zeigt aber vornehmlich Interesse für das Euter, das nun ebenfalls mit Tikkas verziert wird. Damit der Kuh das ganze Tun nicht zu viel wird, holt der Saddhu einen Sack mit Futter, in den Kuh schnell ihren Kopf steckt. So eifrig das Treiben, so gelassen und entspannt geht es dabei zu.
Die ganze Zeremonie gilt offenbar zwei älteren Paaren, die Frauen wie die Kuh in bunte Tücher gehüllt, die Männer in einheitlichem Rot. Sie umrunden Kuh, Kalb und Saddhu mehrmals, geführt von einem Tempelpriester. Erst nach einigen Runden reihen sich die übrigen Gläubigen ein in die Prozession. Immer wieder legt ein Gläubiger, eine Gläubige die Hand auf den Rücken der Kuh, um dann die übernommene Heiligkeit schnell an die eigene Stirn zu führen. Zuletzt umrundet der ganze Zug – Kuh, Kalb und Saddhu vorweg – den ganzen Tempel, bevor das Ritual ziemlich formlos endet.
Die heilige Kuh sollte geehrt werden, ein Geschenk der Tempelgemeinde, bringt Melli in Erfahrung. Ja, so sah das aus. Wobei uns natürlich auch andere Gründe in den Sinn kommen: Fruchtbarkeit, die Bitte um Enkel, Söhne vermutlich … Aber das alles ist nur Spekulation. Der Hinduismus ist eben nicht ganz einfach zu begreifen.

Text: © Copyright Heiner Hiltermann; Fotos: © Copyright Melli Fleig