Ausgangssperre

«Please!», sagt Bella und wedelt mit den Händen. «Redet doch bitte nicht alle durcheinander!» Das Hotel nicht mehr verlassen? Für einige der 30 versammelten Gäste des Broad Lands Guesthouse in Chennai eine unzumutbare Vorstellung.
Bella hat gerade ihre Erfahrung vom Abend zuvor erzählt. Da hatte die Polizei an ihre Tür – in einem anderen Hotel – geklopft und sie und alle anderen ausländischen Gäste aufgefordert, das Hotel unverzüglich zu verlassen. Ihre Angst, keine Bleibe mehr zu finden, war groß. Nur durch Zufall ist sie ins Broad Lands gelangt. Hier sind wir einigermaßen sicher: Der Hausbesitzer hat uns hoch und heilig versprochen, dass wir bleiben können. Sein Betrieb sei ein Boardinghouse, er dürfe Zimmer auch längerfristig vermieten.
Es sind irre Zeiten, seit das Corona-Virus die Macht über die Welt übernommen hat. Für die kommenden drei Wochen herrscht Ausgangssperre in ganz Indien, und die gilt ebenfalls  für Touristen. Auch wenn manche das nicht so recht glauben wollen.
Am Nachmittag hat Bella alle Gäste zu einem Meeting versammelt. Sie führt ihren Rausschmiss darauf zurück, dass sich zu viele Hotelgäste gemeinsam auf der Straße gezeigt haben. Gruppen von mehr als zwei Personen sind in der Öffentlichkeit verboten. Bellas Wunsch: «Bleibt bitte im Hotel, zeigt euch möglichst nicht draußen, sonst blüht uns hier das Gleiche!» Bella ist jung, macht gerade ihren Bachelor in Volkswirtschaft und könnte mit ihrem Tatendrang auch bei Fridays for Future aktiv sein.
Viele Gäste zeigen sich einsichtig, schildern ihre eigenen Erlebnisse und das vielen gemeinsame Gefühl, dass mit zunehmenden Infektionszahlen die Angst vor dem Virus immer tiefer in die Gedanken der Menschen einsickert. Man wird nur noch selten freundlich angelächelt, wenn man den nächsten noch offenen Kiosk sucht, um Kekse und Nüsse zu kaufen – Obst gibt es schon seit ein paar Tagen nicht mehr. Die Menschen schauen ernst, ja misstrauisch, in den Augen der Vorwurf, die Touristen seien Schuld an der Ausbreitung des Virus` im Land. Bilden wir uns das nur ein? Unbefangen geht kaum noch einer auf die Straße.
Die Ausgangssperre hat die Lage noch verschärft. Woher bekommen wir etwas zu essen, wenn niemand mehr das Hotel verlassen darf? Bella hat eine Lösung: Ihr Freund Nithin kommt aus Kerala im Südwesten Indiens, er arbeitet normalerweise als Tauchlehrer auf den Andaman-Inseln. Es sind noch zwei weitere Inder unter den Gästen und alle drei sind bereit, für alle Essen zu besorgen. Sie trauen sich noch hinaus. Ganz selbstverständlich ist das nicht: Zwar werden sie nicht sofort als Touristen erkannt, doch Nithin und Asif sprechen Tamil, die lokale Sprache, nur gebrochen und werden deshalb sofort als Fremde identifiziert, sobald sie den Mund aufmachen.
Renate lehnt Bellas Vorschlag sofort ab, sie ernährt sich speziell und braucht besondere Zutaten. Die anderen wundern sich nicht, Renate hat sich abgesondert, seit sie im Guesthouse ist. Woher sie kommt, bleibt unklar. «Irgendwo aus Ex-Jugoslawien», meint Stephen aus London. Die Abneigung ist gegenseitig. Ein japanisches Paar guckt skeptisch, die Dreiergruppe aus Korea ebenfalls. Womöglich haben sie nicht alles verstanden. Ein französisches Paar will sich auch nicht auf Bellas Vorschlag einlassen. Elke, in Deutschland geborene Inderin, sind die hygienischen Verhältnisse der Straßenstände suspekt, sie will wissen, wo ihr Essen herkommt. Sie ist aber bereit, in einem Restaurant anzufragen, ob sie den Catering-Service übernehmen wollen. Und John aus den USA empfiehlt Gelassenheit: «Entspannt euch, ist doch alles ganz easy hier!» John hätte das nicht betonen müssen: Trotz der bedrohlichen Situation draußen gehen alle sehr freundlich und gelassen miteinander um. Renate bleibt die einzige Außenseiterin.
Die Mehrheit der Gäste akzeptiert Bellas Vorschlag. Es werden WhatsApp-Gruppen eingerichtet für die Bestellungen. Es geht nicht alles glatt, wir bekommen doppelt so viel Reis, dafür nur die Hälfte Gemüse. Und wer um 18 Uhr zu essen gewohnt ist, wird nervös, wenn um 20 Uhr noch immer nichts da ist. Aber Bella bringt das Essen mit so viel Fröhlichkeit, dass man zu klagen vergisst.
Die Beschaffungskette hält nicht lange: Am nächsten Morgen druckt das Hotelbesitzer die Vorschriften zur Ausgangssperre aus: Alle nicht lebenswichtigen Einrichtungen sind geschlossen, die Menschen sollen möglichst daheim bleiben. Aber natürlich dürfe man einkaufen gehen, im Umkreis von einem Kilometer. Doch wir sollen nicht alle auf einmal raus und nicht ziellos herum flanieren.
Doch Vorschriften sind das eine, die persönlichen Erfahrungen das andere: Zum Frühstück gibt es Idli, einen relativ geschmacklosen Reiskuchen mit Soße. Melli mag ihn nicht, also gehe ich los, um Puri oder Samosa zu kaufen. Die Straße ist wie leer gefegt, nur ab und zu mal ein Motorrad. Ohne Ausgangssperre hat man die Strasse fast nicht überqueren können. Alle Läden sind geschlossen, die Stände, an denen wir am Vortag noch gegessen hatten, sind verwaist. Ein Mann sieht, dass ich etwas zu Essen suche und schickt mich in ein Seitenstraße. Nichts, auch der Stand ist geschlossen. Ich kehre mit leeren Händen zurück.
Einen Tag später ist die Stimmung noch angespannter. Zwei Männer stehen vor einem Haus, sie beachten mich nicht. Ich bin der Einzige, der über die Straße geht. Aus offenen Fenstern werde ich beobachtet – misstrauisch? Die 100 Meter zum Kiosk werden zum Spießrutenlaufen. Der Händler fordert mich gleich auf, Abstand zu halten. Schnell kaufe ich ein paar Packungen Kekse, die Auswahl ist begrenzt. Ich bin froh, als ich wieder im Hotel bin.
Eine Erfahrung am Nachmittag: Nithin hat Chai besorgt, gut gezuckerten Milchtee. Im ersten Innenhof stehen sechs, acht Gäste und plaudern. Plötzlich kommt Raja, der Manager, und treibt uns auseinander. «Geht auf eure Zimmer, schnell, die Polizei steht vor der Tür!» Gruppen sind verboten! Offenbar auch in halbprivaten Räumen.
John hatte erzählt, dass es schon am Morgen beinahe zur Katastrophe gekommen sei: Renate hatte ihre Zimmernachbarin aus der Schweiz beschuldigt, mit dem Corona-Virus infiziert zu sein. Sie hatte damit gedroht, die Polizei zu holen und war nur mir großer Mühe davon abgehalten worden. Nicht auszudenken – wir wären alle in Quarantäne gesteckt worden. Und die Hoffnung auf einen Evakuierungsflug, organisiert von der deutschen Botschaft, hätten wir begraben können.
Wohl die meisten von uns warten darauf, von ihren Heimatländern ausgeflogen zu werden, Marc aus Avignon, Stephen aus London, John und Lucia aus den USA. Oder dass das dreiwöchige Flugverbot vielleicht doch ein bisschen aufgeweicht werden könnte. Wir fürchten, dass sich die Stimmung in der Bevölkerung Touristen gegenüber noch weiter verschlechtert, wenn sich die Zahl der Infizierten demnächst drastisch erhöht. Sofia aus Linz macht sich darüber keine Gedanken. «In ein paar Wochen ist das Ganze vorbei», sagt sie, «dann kann ich weiterreisen». Manu aus Barcelona hat einen ernsteren Grund: «In Spanien ist die Situation sehr schlimm, warum sollte ich dahin wollen?», fragt er. «Da bleibe ich doch lieber hier!»
Das junge Paar aus Japan hat ein Ticket nach Sri Lanka. Sie wollen zum Flughafen. Ein Flug ist gar nicht möglich, Indien hat alle Flughäfen geschlossen und Sri Lanka lässt ohnehin niemanden mehr ins Land. Unsere Warnungen tun sie mit einem Lächeln ab. Dabei sind sie draußen besonders gefährdet – sie werden wegen ihres Aussehens oft für Chinesen gehalten, und die sind doch die Wurzel allen Übels! Einen ganzen Tag sehen wir sie nicht, am Abend begegnen wir ihnen. Sind sie am Flughafen gewesen? Sie lächeln freundlich.
Wir haben ein Zimmer mit Terrasse und ein paar Korbstühlen. Immer mal wieder kommt einer der anderen Gäste vorbei und erzählt. Stephen aus London zum Beispiel. Er war ein paar Monate auf den Andaman-Inseln und wurde dort, wie alle anderen Touristen, Anfang der Woche ausgewiesen. Er hat seit vier Jahren keinen festen Wohnsitz, wenn er nach England kommt, kann er bei seiner Ex-Frau oder bei seiner Tochter wohnen. Stephen ist 57 und macht sich große Sorgen. Das passt gar nicht zu seinem Erscheinungsbild: Ein großer, stabiler viel gereister Backpacker mit zerzausten Locken, der gerne von vergangenen Zeiten erzählt, in denen es noch kein Internet gab und Briefe poste restante verschickt wurden. Dann strahlen seine Augen! Doch auf Handy und Wifi möchte er nicht mehr verzichten. Heute freut er sich, dass er Filme streamen und – in Vor-Corona-Zeiten – Fußballergebnisse live erleben kann. Ihn hat das Virus auf dem falschen Fuß erwischt: Er hatte ein Ticket nach Spanien, wollte sich auf den Jakobsweg machen. Das kann er vergessen. Seine Familie ist im Moment der einzige Halt.
Oder Marc aus Avignon, der daheim illegal in einem Wohnwagen lebt und sein Geld als Allround-Handwerker verdient. Er ist begeisterter Hochsee-Angler und reist seinem Hobby hinterher. Er freut sich darüber, dass in den Callanque wieder Delfine schwimmen, jetzt wo die Touristenboote weg bleiben. Auch er war auf den Andaman-Inseln, er hat dort einem Freund beim Ausbau seiner Hütte geholfen. Den Winter verbringt er seit Jahren im Süden, auf Sumatra, den Nikobaren oder anderen Inseln Süd- und Südostasiens. Dort organisiert er Fischereiausflüge für reiche Touristen, die es sich leisten können, für eine Woche 4000 Euro hinzulegen.
Wir alle sind froh, im Broad Lands gelandet zu sein. Hier kann man es in der selbstgewählten Quasi-Quarantäne einigermaßen aushalten. Nicht nur, weil das Personal sehr nett ist und hilft, wo es kann. Das Gebäude selbst ist ein Schmuckstück: Hier hat vor mehr als hundert Jahren das Konsulat des Osmanischen Reichs residiert. Die Vergangenheit ist noch überall lebendig: Innenhof reiht sich an Innenhof, die einzelnen Stockwerke sind über eine verwirrende Zahl von Gängen und Treppen miteinander verbunden. Ein Labyrinth, in dem man sich schon mal verlaufen kann. Der einzige Orientierungspunkt ist die große Moschee gegenüber, von der der Muezzin seit der Ausgangssperre nur noch leise zum Gebet rufen darf: Erscheinen darf keiner der Gläubigen, auch alle religiösen Einrichtungen sind geschlossen.
Unser Zimmer unterm Dach wirkt, als hätten hier schon Joseph Conrad oder Somerset Maugham ihre Geschichten verfasst: Ein kleiner Schreibtisch mit gedrechselten Beinen steht zwischen zwei Fenstern, darüber dreht sich unermüdlich der Fan. Ein Sofa lädt zur Siesta am Mittag. Der Couchtisch vermittelt Wohnzimmeratmosphäre. Das Badezimmer hätte mal eine Renovierung verdient, aber über abblätternden Putz blickt man hinweg. Von unserem Fenster nach Westen genießen wir die Sonnenuntergänge. Und draußen geht die Welt unter – so irreal!

Text: © Copyright Heiner Hiltermann; Fotos: © Copyright Melli Fleig