Heiner Hiltermann, Journalist und Autor

Bodhgaya muss man gesehen haben. Sagen die Buddhisten. Denn dort unter einem Pipal-Baum, einer Pappelfeige mit ausladender Krone und beeindruckendem Stamm, fand Buddha seine Erleuchtung. Direkt neben dem Baum – ein Ableger des Bodhibaums, der vor 2600 Jahren hier wuchs, so wird behauptet – haben Buddhas Anhänger den Mahabodhi-Tempel errichtet. Buddhisten aus aller Welt, vor allem aus der asiatischen, huldigen hier ihrem Gott. Viele Mönche sind hier, in allen erdenklichen Orange- und Rottönen: Die Senfgelben kommen aus Thailand, die knallig Orangen aus Burma, die Weinroten aus Tibet, die Weissen aus Japan.

Und alle Länder haben ihr eigenes Kloster, in denen man die verschiedenen Formen der Annäherung an Buddha nachvollziehen kann: Golden verklärt lächelt Buddha bei den Thai, bunter geht es bei den Bhutanesen zu. Die Japaner demonstrieren Understatement: Ihr Buddha ist aus schwarzem Stein, das Kloster stilvoll mit viel naturfarbenem Holz gebaut. In den Klöstern kann man natürlich meditieren und meditieren lernen. Manche Westler spricht das an, die abends mit verklärtem Gesicht ihrem Lehrmönch beim Abendessen lauschen.

Nachdenklich gemacht hat uns die Armut der Menschen, die in Bodhgaya wohnen und nicht aus Glaubensgründen oder reiner Neugier für ein paar Tage anreisen. Direkt gegenüber von unserem Guesthouse stehen ein paar schlichte Ziegelhäuser. Nachts kämpft eine winzige Glühbirne vergeblich gegen die Dunkelheit. Gekocht wird auf offenem Feuer. Eine Frau backt Chapati, ihr kleiner Sohn zerteilt seinen genussvoll. Ein Mann mischt Dung mit Holzwolle, richtet einen Feuertopf – eine Art Heizung gegen die Kälte in der Nacht, meint Melli. Hühner laufen frei herum, picken am Teigfladen des Kleinen. Ein Junge scheucht Ziegen aus dem Wohnbereich.
Hundert Meter weiter sind die windschiefen Lehmbauten der Menschen, die hier leben müssen nur mit Plastikplanen gegen Regen, Staub und Sonne geschützt. Eine einzige Wasserstelle dient auch der Körperpflege. Strom gibt es hier nicht, nach Einbruch der Dunkelheit ist es hier stockfinster.
Die Allerärmsten aber finden wir am Abreisetag, als uns die Autorikscha um vier Uhr morgens zum Bahnhof in die nächstgrössere Stadt bringt: Sie liegen, notdürftig mit ein paar Tüchern gegen die Kälte geschützt, auf den Gehwegen, auf denen tagsüber die Touristen auf der Suche nach Buddahs Spuren an den Schmuck- und Kleiderständen vorbei flanieren. Am Stadtrand wärmen sich ein paar Kinder an einem kleinen Feuer, im Widerschein der Flammen nur schemenhaft zu erkennen – ein Anblick, der die Zweifel an Glauben und Erleuchtung nährt.

Text und Foto: © Copyright Heiner Hiltermann