Heiner Hiltermann, Journalist und Autor

Behutsam setzen die beiden Männer einen Fuss vor den anderen. Sie balancieren schräge, grob behauene Baumstämme empor, die sich bei jedem Schritt weiter in die Tiefe senken. Unter den beiden Männern hängt ein Fischernetz wie eine überdimensionale Hängematte, rund 20 Quadratmeter gross. Am Ufer von Cochin sorgen weitere Männer dafür, dass sich zehn, zwölf in ein starkes Seil geknotete schwere Steine nicht ineinander verhaken. Die Steine bilden das Gegengewicht zu Netz, Baumstämmen und Männern.

Ein weiterer mächtiger Baumstamm dient als Drehachse. Um das Netz – mit möglichst viel Fisch – wieder aus dem Meer zu heben, gehen die beiden Männer vorsichtig rückwärts. Mit ihrem Körpergewicht sorgen sie dafür, dass diese fein austarierte aus China stammende Fischfangkonstruktion nicht aus der Balance gerät.
Auf einer schwimmenden Insel aus Laub und Geäst dümpelt ein Kormoran vorbei und schaut gelangweilt auf die Ausbeute der Fischer. Früher einmal mögen diese chinesischen Fischernetze tatsächlich dem Fischfang gedient haben, früher gab es die ganze Küste entlang hunderte davon. Heute sind nur noch etwa 20 übrig und sie dienen ausschliesslich als Attraktion für Touristen. Die Fänge sind armselig, in den Eimern zucken nur ein paar Plattfische. Was die Stände an der Strasse anbieten, stammt von Fischtrawlern, die morgens im Hafen einlaufen. Wenige Kilometer südlich allerdings, in den Backwaters von Kerala, betreiben immer noch zahlreiche Fischer ernsthaften Fischfang mit den chinesischen Netzen.
Ein paar Meter landeinwärts in der Uferstrasse hängt der Duft von Zimt in der Luft, von Kardamon, Kurkuma, Koriander, von Nelken, Sternanis, Pfeffer, Ingwer und Chili. In grossen Säcken stehen die Gewürze vor einem Souvenirshop und erinnern an die einstige Grösse Cochins:

Vor 500 Jahren war hier an der Malabarküste einer der Hauptumschlagplätze für die damals in Europa weitgehend unbekannten Aromen aus den Tropen, die in den Palästen von Venedig, Madrid und Lissabon beinahe mit Gold aufgewogen wurden. Heute werden die Gewürze nur noch in kleinen Einheiten an die Touristen verkauft. Die Besucher kommen mit der Fähre vom Festland, von der modernen Schwesterstadt Ernakulam hierher an die Spitze der Halbinsel Mattancherry, um in den kleinen Gassen und vor allem im jüdischen Viertel einen Hauch der abenteuerlichen Geschichte zu erspüren.
Die Portugiesen waren hier, die Holländer, die Engländer. Kirchen und Kathedralen zeugen von ihrer Anwesenheit, ein alter holländischer Friedhof, auf dem die Grabsteine von tropischem Grün überwuchert sind. Am Ufer liegen elegante Villen, hohe Metallzäune halten die Besucherströme fern. Die grossen Lagerhäuser an den Kais sind verwaist, sie lassen allenfalls ahnen, welche Mengen an Gewürzen hier einmal verschifft worden sind. In einer dieser Hallen hat sich im ersten Stock eine Frauenkooperative niedergelassen. Wie in den Touristenshops werden auch hier die Gewürze nur noch als Souvenir verkauft. Als Besonderheit bieten die Frauen selbstgemachte Ingwerbonbons an, die vor allem eines sind: zuckersüss.
Heute landen hier in Cochin keine portugiesischen Segelschiffe mehr, um Gewürze nach Europa zu transportieren. Heute fahren Tanker wie an einer Perlenkette aufgereiht am alten Fort vorbei und entladen ihre Fracht an einem modernen Terminal: Erdöl, das flüssige Gold, das heute noch die Wirtschaft antreibt.

Text und Fotos: © Copyright Heiner Hiltermann