Heiner Hiltermann, Journalist und Autor
Wir hätten es wissen können: "Sie wollen nach Tiruvannamalai?", fragte der alte Inder und zog erstaunt die rechte Augenbraue hoch. "Oh, Sie werden den Ort lieben", sagte er dann mit einem süffisanten Lächeln. "Es gibt dort sehr viele Deutsche", erklärte er. "Sie leben am heiligen Berg in eigenen Villen hinter hohen Mauern." Der Mann war früher Richter in Delhi gewesen und verbringt seit Jahren die kalten Wintermonate im Süden. Zwischen Chennai, Madurai und Bombay kennt er jeden interessanten Fleck. "Ich habe in Tiruvannamalai einmal einen Österreicher getroffen und ihn gefragt, was er dort so mag. Er hat mich nur erstaunt angesehen: er kommt seit 35 Jahren dorthin!" Der Richter schüttelt ungläubig den Kopf. 35 Jahre nach Tiruvannamalai, einfach unglaublich!
Als wir in Tiruvannamalai aus dem Bus steigen, empfängt uns erst einmal der typisch indische Lärmpegel: Hupen, Klingeln, Rufen, Bollywoodmusik. Auch unser Hotel in der Bazarstreet wird hauptsächlich von Indern bewohnt. Unten ein Restaurant, in dem wir so ziemlich die einzigen westlichen Gäste sind. Morgens um sechs klopft der Hotelboy an die Tür, um den Kaffee zu bringen. Er will offenbar wegen des Trinkgelds – zehn Rupies – seinem Kollegen zuvorkommen. Neben uns hat sich ein indisches Ehepaar übers Wochenende einquartiert, sie besuchen den grossen Tempel von Tiruvannamalai. Vier hohe Türme markieren die Himmelsrichtungen, sie sind über und über mit Götterfiguren geschmückt. Im Gegensatz zu Madurai sind die Figuren aber nicht bunt, sondern die Türme scheinen strahlend weiss.
Um den eindrücklichen Tempel herum das gewohnte Treiben: Pilger, Händler, Bettler, Sadhus.
Was der Richter gemeint hat, sehen wir erst später, als wir uns auf den Weg machen zu einem der Aschrams, für die Tiruvannamalai unter westlichen Sinnsuchenden so berühmt ist. Zuerst fallen vermehrt Fahrradläden auf, Reparatur und Verleih, dann Kleiderläden mit einem Angebot, das Inder – vor allem Inderinnen – nie tragen würden. Dann der erste Aschram. Ein Schweizer gibt Auskunft. Er ist vom Meditieren offenbar etwas durcheinander, er erzählt viel und sagt nichts. Wir treffen ihn am kommenden Tag noch einmal, als wir vom Arunachala, dem heiligen Berg Shivas, herabsteigen. Kurz unter dem Gipfel – verziert mit dem Dreizack Shivas und Unmengen Ghee – kommt er uns entgegen, mit hochrotem Kopf. Wir grüssen mit "Hallo", er aber flüstert nur leise: "Ich schweige!" Ohne Halt stapft er an uns vorbei.
Neben dem Aschram führt eine Strasse Richtung Berg, ein Guesthouse reiht sich ans andere. Wir schauen uns ein Zimmer an, es macht nicht den saubersten Eindruck. Aber hier geht es ja nicht ums Sein, es geht ums Bewusstsein. Eine German Bakery schiebt sich dazwischen, eine Praxis für Ayurveda. Einheimische sieht man hier nur als Dienstleistende für die Sinnsucher. Die schreiten in sich gekehrt durch die Gassen, in weiten Hemden und Pluderhosen, bei denen der Hintern fast den Boden berührt, "Ali-Baba-Style", nennen die Händler das.
Unsere Welt ist das nicht und so gehen wir auf dem Rückweg Richtung Stadt eine andere Seitengasse hoch, ein Viertel der Einheimischen. Gern gesehen sind wir hier nicht, im besten Fall schlägt uns Gleichgültigkeit entgegen. Wir haben das Gefühl, als wollten sie uns sagen: "Lasst uns in Ruhe, bleibt doch in eurem Ghetto da oben."
In den Tempel gehen die Sinnsucher natürlich auch. Vor einem Seitenaltar sitzt ein Westler und meditiert in perfektem Lotussitz. Der Tempel ist aber hauptsächlich für Hindu-Pilger da. Die kommen auch, läuten erst einmal die Glocken, um die Götter zu wecken, werfen sich dann lang auf den Boden, grüssen noch mal zur Götterfigur und hängen im nächsten Moment am Handy, um lautstark die nächsten Geschäfte zu verhandeln. Der Konzentration ist das natürlich abträglich. Der Nacken unseres Meditierenden verspannt zunehmend. Schliesslich gibt er auf und geht. Immerhin, er hat es versucht.
Vor dem Haupttempel verharrt eine weisse Madonna in andächtiger Pose. Ihr Aufzug ähnelt Mutter Theresa. Die Inder schauen verwundert. Ihr Partner trägt ebenfalls weiss, sein kahler Schädel ist mit weissen Kreidestrichen verziert, die die Tempelpriester gerne gegen Geld anbieten. Vor dem Tempel sehen wir sie wieder. Eine Limousine mit abgedunkelten Scheiben holt sie ab.
Den letzten Vormittag verbringen wir an einem Tempel auf einem kleinen Hügel über der Stadt – wegen der Aussicht. Poojas (Gebetsstunden) sind auf einem Plakat zwar angekündigt, finden aber nicht statt. Einmal kommt ein Tamile, pflückt ein paar Blüten von einem Oleander und legt sie auf das Haupt des Nandi-Bullen. Dann geht er. Vier Mädchen von der "Danish Mission School" wollen unsere Namen wissen und sind bald wieder verschwunden. Sonst sind wir allein. Der Tempel steht in keinem Reiseführer, ist in der Aschram-Szene offenbar ohne Bedeutung. Warum, verschliesst sich unserer Erkenntnis: Es ist wunderbar ruhig hier, der Blick über die Stadt und die Ebene davor fantastisch. Selbst der Verkehrslärm dringt nur entfernt an unsere Ohren.
Im Bus nach Mamallapuram setzt sich ein weiss gekleideter Tamile zu uns. Nach dem üblichen woher, wohin, fragt er plötzlich: "Glauben Sie an Jesus?" Wir zögern etwas zu lange. "Sie müssen die Bibel lesen, ich lese jeden Tag darin." Er ist Baptist und zeigt uns noch im Vorbeifahren seine Kirche – ein kleiner blauer Blechschuppen mit gerade genug Platz für die 46 Mitglieder seiner Gemeinde.
Mamallapuram ist ein kleines idyllisches Fischerdorf bei Chennai, hatten wir gedacht und geplant, dort die letzten Tage in Indien vor unserem Weiterflug nach Bangkok zu verbringen. Welch ein Irrtum! Wir biegen in die Strasse ein, in der unser Reiseführer die meisten Hotels aufgelistet hat und fallen aus allen Wolken: Hunderte Backpacker hängen hier ab, aus den Bars schallt Rockmusik, die Kneipen heissen "Moonraker" und "Nightmare". Dazwischen wieder die Kleiderläden mit Waren, die Inderinnen nie tragen würden und die übliche German Bakery, geführt von einem Nepali. Wir sind im nächsten Ghetto gelandet.
Allerdings: Nur zwei, drei Strassen weiter südlich drängen sich die indischen Touristen, Mamallapuram ist berühmt für seinen Ufertempel, seine in den Fels gehauenen Steinskulpturen und für seinen Jahrmarkt-Strand. Polizei muss den Verkehrsstrom in die richtigen Bahnen lenken. Auch hier am Weg Marktstände en masse. Sie bieten kein Bier, sondern indisches Fastfood, Eis, Zuckerrohrsaft und Souvenirs, die kein westlicher Tourist je kaufen würde. Auf ihre Art haben sich auch die Inder hier ein Ghetto geschaffen.