Heiner Hiltermann, Journalist und Autor

Ein Bild sagt mehr als tausend Worte...

... ich möchte dennoch ein paar über Khajuraho verlieren, eine Kleinstadt, für indische Verhältnisse eher ein Dorf, mitten in der Pampa von Uttar Pradesh. Trotzdem verfügt Khajuraho über einen eigenen Bahnanschluss, 20 Kilometer Gleise, die extra von der Hauptlinie Varanasi – Agra hierher verlegt wurden, und über einen internationalen Flughafen, dessen neue An- und Abflughalle aus Glas und Stahl jeder Stadt in Europa zur Ehre gereichte. Auf der Piste starten und landen täglich zwei grosse Passagierjets.
Und warum das alles? Am Ortsrand wurden tausend Jahre alte Tempel ausgegraben, deren Skulpturen und Steinreliefs einzigartig sind: Rund 850 Darstellungen unterschiedlicher Sexszenen sind hier in Stein gemeisselt. Sie sind ins Unesco-Weltkulturerbe aufgenommen. Sex sells, werden sich die Verantwortlichen in der Regierung von Uttar Pradesh gedacht haben.

Natürlich sind alle Besucher nur an der Kultur interessiert, an der Feinheit der Steinmetzarbeit, an der Natürlichkeit der Bewegungen. Die Fremdenführer überschlagen sich mit Hinweisen. Gleichwohl ballen sich an den Tafeln mit den eindeutigen Stellungen die Zuschauer, hier klicken die Fotoapparate im Sekundentakt. Denn auf vielen der zwei Meter über den Köpfen angebrachten Reliefs herrscht ein so grosses Durcheinander an Armen und Beinen, dass man die einzelnen Körperteile den handelnden Figuren nur schwer zuordnen kann.
Über die Bedeutung dieser Bilder sind sich die Experten noch nicht so richtig im Klaren. Dienten sie schlicht der Befriedigung der damals Herrschenden? Haben sie einen verborgenen religiösen Sinn? Stellen sie das Kamasutra dar? Sollten sie zeigen, dass die Herrscher selbst bei grösster Provokation der gelobten Keuschheit folgen konnten? Die Fachwelt wartet noch auf Antworten.
Ob sich die Investitionen gelohnt haben, darüber sind sich die Einwohner des Dorfes im Unklaren. Derzeit klagen sie, dass zu wenig Touristen kommen. Dabei hat Khajuraho durchaus noch mehr zu bieten: Der Ort ist für indische Verhältnisse extrem sauber, die Anmache hält sich in Grenzen, man kann hier gut abschalten. Das alte Dorf glänzt zudem mit farbenfrohen Hausanstrichen. Aber deshalb nimmt natürlich niemand eine anstrengende Überlandfahrt in Bus oder Zug auf sich oder zahlt einen teuren Anflug. Mit Sexbildern, seien sie auch noch so kunstvoll, lassen sich aber heute in Zeiten überall zugänglicher Pornographie womöglich kaum noch Touristen anlocken.

Text und Fotos: © Copyright Heiner Hiltermann