Heiner Hiltermann, Journalist und Autor

Es ist Pilgersaison in Südindien. Eigentlich ist hier ja immer Pilgersaison, aber im Januar ist es besonders voll: Jetzt sind die Ayyappa unterwegs. Die Ayyappa sind Anhänger einer Hindugöttin aus den Bergen von Kerala und zählen Millionen. Sie sind leicht erkennbar: Die Männer – es sind fast ausschliesslich Männer – tragen schwarze Dhotis und schwarze Hemden, wenn sie nicht mit freiem Oberkörper herumlaufen und ihre vielen Halsketten zeigen. Zwei Monate lang ziehen sie von einem Pilgerort zum nächsten Tempel. Danach sind sie wieder ganz normale Arbeiter, Angestellte, Familienväter. Allein sind sie nicht unangenehm, aber sie treten fast immer in grossen Gruppen auf. Dann sind sie laut und raumfüllend. Auch untereinander schreien sie sich gerne einmal an, gestikulieren wild mit den Fäusten, die Augen flackern fanatisch.

Besonders krass ist das in Kanyakumari. Kanyakumari hat nicht nur einen einigermassen berühmten Tempel, hier ist die Südspitze Indiens, hier taucht der Subkontinent in den indischen Ozean ab. Deshalb kommen auch nicht nur Pilger nach Kanyakumari, sondern auch ganz normale indische Touristen, die genauso wenig Ahnung haben von der hinduistischen Götterwelt: Mal besiegt Shiva Brahma, der doch der Welterschaffer ist, Parvati heißt manchmal Menakshee, Vishnu spielt auch immer eine andere Rolle, nur Krishna sieht überall aus wie Miss Piggy. Es ist schon witzig, wenn Inder uns fragen, wem denn nun der Tempel in Kanyakumari gewidmet sei, weil sie die tamilischen Inschriften nicht lesen können.

Hier sind auch die Ayyappa nicht nur pilgernd unterwegs. In den von hunderten Marktständen gesäumten Gassen nehmen sie oft die ganze Breite ein und machen nur unwillig Platz, wenn andere Touristen oder Pilger an ihnen vorbei wollen. Und einen Strandabschnitt haben sie für ein Bad im Meer ebenfalls für sich reserviert. Dort hüpfen sie herum wie kleine Kinder.

Laut hupend erreichen mit Ayyappa gut gefüllte Pkw – gerne SUV! – und Busse ihre Unterkunft, auch wenn es mitten in der Nacht ist. Über die Gänge rufend werden Freunde in den verschiedenen Zimmern gesucht. Ruhe finden wir nur selten. Morgens um fünf beginnen die Gesänge, werden die Götter mit lautem Geläut und Hindumusik aus der Konserve geweckt.

In Kanyakumari lässt das die Konkurrenz nicht ruhen: Eine halbe Stunde später meldet sich der Muezzin und um sechs überträgt die katholische Kirche ein Hochamt mit Verstärker und grossen Lautsprechern für die ganze Gemeinde. Wir sind nicht lange geblieben.

Geruhsamer geht es in Madurai zu. Hier steht der Shree Menakshee-Tempel, der laut Reiseführer für die Hindus dieselbe Bedeutung hat wie das Taj Mahal für die indischen Muslime. Vier äussere Türme überragen die Stadt, über und über mit bunten Götterbildern besetzt. Hierher kommen auch die Ayyappa nur um zu beten. Und das tun sie mit grosser Inbrunst. Immer wieder laufen schwarz gekleidete Gruppen durch das Heiligtum, tragen auf Bambusstangen einen kleinen Altar mit sich, der während der Pilgerfahrt auf dem Fahrzeugdach festgeschnallt ist. Langgestreckt liegen sie auf dem kühlen Granit vor dem Hinduschrein. Vor dem Shree-Menakshee-Schrein, dessen Betreten Nicht-Hindus verboten ist, bilden sich lange Schlangen. Es geht eng zu. Wenn hier Panik ausbricht, sollte man nicht in der Nähe sein. Dass das nicht passiert, dafür sorgt die überall im Tempel und an den Eingängen postierte Polizei.

Nur wenige Ayyappa treffen wir in Tiruchirapalli, kurz Trichy. Hier steht eine flächenmässig noch grössere Tempelanlage als in Madurai. Eine ganze Tempelstadt zieht sich ringförmig um das innere Heiligtum, das Nicht-Hindus – wie fast überall – verschlossen bleibt. Allerdings verblassen die Farben und wegen der vielen Läden im Tempelbezirk ist die Atmosphäre längst nicht so spirituell wie in Madurai. Das zweite touristische Highlight in Trichy ist der steil aus der Ebene emporragende Felsen mit Fort und Tempel. 430 schweisstreibende Stufen führen nach oben und als wir dort ankommen, ist die Spitze bereits besetzt – von Ayyappa.

Aber oh Wunder: Obwohl eine grosse Gruppe, sind diese Männer sehr freundlich, fotografieren sich und uns und freuen sich, als wir sie auf die Festplatte bannen. Im Gespräch zeigt sich dann allerdings, das Wunder ist gar nicht so gross: Diese Ayyappa sind keine Inder, es sind Tamilen aus Sri Lanka. Die Frage nach den Zuständen in ihrer Heimat allerdings macht sie einsilbig: "Not good", ist das einzige, was sie sich entlocken lassen.

Die Ayyappa sind nicht die einzige Pilgergruppe, die durch Südindien zieht. Auf unseren Busfahrten von Stadt zu Stadt sehen wir Tausende, die in Orange und/oder Grün gekleidet die Strasse entlang ziehen. Furchtlos laufen sie barfuss über den Highway, balancieren auf der weissen Seitenstreifen-Markierung, weil diese sich in der Sonne nicht so aufheizt wie der Teer. Wohin sie gehen, ist uns verborgen geblieben. Aber sie haben ein Ziel, sie gehen schnell.

Text und Fotos: © Copyright Heiner Hiltermann