Heiner Hiltermann, Journalist und Autor


Körperkult ist hier nicht. Die Raver, die coolen Typen mit Figuren wie Barbie und Ken treffen sich woanders in Goa. Hier in Benaulim ist mehr der Seniorenstrand, hier geht es beschaulich zu. Ein paar Hippies sind hier hängengeblieben, oder besser: Sie kommen jedes Jahr im europäischen Winter für vier, fünf, sechs Monate nach Goa und schwelgen selig in Erinnerungen. Nach Anjuna, dem einstigen Hotspot in Nordgoa, gehen sie nicht mehr, dort dominieren jetzt die Russen. Und die beherrschen dort den Drogenmarkt und die Nächte mit lauten Drums und Bässen. Mit ein bisschen Hasch kommt man dort nicht mehr weit.
Für Raverparties sind die Hippies hier ohnehin zu alt geworden. Sie lauschen lieber abends in den Strandbars von Südgoa den Hits aus den 70ern. Die einige von ihnen selber auflegen: Beachboys, Led Zeppelin, Stones. Ansonsten wollen sie wie alle anderen hier auch in Ruhe am Strand rot-braun werden. Auch an ihren Figuren hat der Zahn der Zeit genagt. Noch soviel Sonnenglut kann die Falten und den Hüftspeck nicht hinwegzaubern.
Man trifft sich im "Hawai", ein Strandlokal, das eine Belgierin mit ihrem goanischen Partner betreibt. Man begrüsst sich mit Küsschen, Neuankömmlinge werden kritisch beäugt. Ein mittelalter Rastaman würdigt das Meer keines Blickes, er schaut lieber ein Video auf seinem Laptop. Das Essen im "Hawai" ist hygienisch sauber, angeblich kann man hier sogar Salat essen. Aber die Gerichte sind fad. Wer indische Küche liebt, ist hier falsch. Aber nach ein paar Monaten haben auch die ehemaligen Hippies von der indischen Küche die Nase voll und sehnen sich nach Europa. Francoise aus Paris ist Stammgast hier und empfiehlt das "Hawai" jedem Neuling. Wenn der allerdings noch die indische Küche bevorzugt, ist sie beleidigt.

 

 

Morgens läuft immer eine Frau gemessenen Schrittes am Strand entlang. Anfangs hob sie immer den rechten Arm im Rhythmus ihrer Schritte. Seit zwei Tagen hebt sie abwechselnd auch den linken. Vermutlich macht sie einen Yogakurs und hat das Händeheben als Aufgabe mit auf den Weg bekommen. Ohnehin wird hier am Strand viel Yoga praktiziert. Plötzlich drückt sich ein einsamer Sonnenanbeter nebenan in eine Brücke und man weiss, jetzt ist für eine halbe Stunde Unterhaltung geboten: Kobra, Kopfstand und Sonnengruss.

Am Wochenende kommt morgens eine Gruppe goanischer Männer. Sie lassen sich erst einmal beim "Fanta Sea" (ja, Fantasie hat man hier!) auf den Liegen nieder und schauen aufs Meer. Einer – immer derselbe – fasst sich dann ein Herz und geht als Erster ins Wasser. Die anderen folgen zögernd, manche in langer Hose. Spätestens nach einer halben Stunde sind sie zurück auf den Liegen, bestellen Tee und reden miteinander.

Wo ihre Frauen sind? Das fragen wir uns auch manchmal. Indische Frauen sieht man eher selten am Strand von Benaulim, im Wasser fast nie. Und dann nur komplett verhüllt im Sari. Nebenan in Colva sieht man mehr Familien. Dort gibt es auch mehrere Ferienheime für Bahnangestellte und Staatsbedienstete.

Die Betreiber der Strandbars sind nicht sehr zufrieden mit der Saison: Die Gäste bleiben aus. Woran das liegt, darüber hat jeder seine eigene Theorie: an Visa-Erschwernissen durch die Regierung, an schlechter Presse über Indien (Vergewaltigungen!), an den Russen. Die erobern nämlich langsam auch den Süden Goas. In ein paar hundert Meter Abstand von der Küste sind grosse Hotelanlagen entstanden, die die Russen offenbar gerne füllen. Und wenn sie sich in einer Bar niederlassen, geben sie auch Geld aus. Die meisten Strandrestaurants haben ihre Karte übersetzen lassen, viele Kellner sprechen wenigsten ein paar Brocken Russisch. Beliebt sind die Russen allerdings nicht: Sie sind oft laut, unfreundlich zum Personal und markieren gerne mal den dicken Maxe. Aber sie bringen Geld und das ist das Wichtigste.

Das finden auch die Händlerinnen am Strand, die mit Schmuck, Tüchern und Henna-Tatoos ihr Auskommen finden wollen. Die Russen kaufen, pöbeln zwar ein bisschen, zahlen dann aber doch. Offenbar jedoch sind einige bei den Strandhändeln zu sehr übers Ohr gehauen worden. Jetzt patrouilliert die Polizei und verscheucht die Frauen. Sie sind dabei nicht zimperlich, es setzt auch schon mal Stockhiebe. Die Frauen lassen sich trotzdem nicht einschüchtern. Es ist wie bei Hase und Igel: Da sie viele sind, der Polizist aber meist allein, kommt er höchstens mal zu Zufallstreffern.

 

Das "Fanta Sea" ist unsere Frühstücksbar, den Kaffee kriegen sie einigermassen hin und bei Toast mit Marmelade kann man sowieso nicht viel falsch machen. Das ist wichtig, weil die Bedienungen dort morgens noch sehr müde sind. Kein Wunder, sie bedienen ihre Gäste auch häufig bis nachts um zwei. Da ist es schwer, um acht Uhr morgens schon wieder fit zu sein. Einmal hat uns einer sogar wieder weg geschickt, sie seien noch nicht soweit, erst in einer Viertelstunde. Am Morgen darauf war einzig der Manager zu sehen: Er lag in einem Sessel und schnarchte. Normalerweise ginge man dort nicht mehr hin. Aber die Jungs sind sympathisch, vor allem Digamba, einer der beiden Kellner. Er ist 22, kommt aus der Gegend von Nagpur und bedient schon seit sechs Jahren in unterschiedlichen Lokalen. Englisch hat er sich selber beigebracht, Russisch lernt er. Eine Zeit lang hat er in Bombay gelebt und auch als Bedienung gearbeitet. Er hat mehr verdient als hier, aber das Leben in der Millionenmetropole ist auch doppelt so teuer.

Im "Fanta Sea" bekommt er 5000 Rupies im Monat, rund 60 Euro. Essen, Trinken und Unterkunft hat er frei. Aber was heisst das schon: Sie schlafen alle hinter der Küche der Strandbar in einem zugigen Verschlag und die Nächte kühlen schon mal auf 17, 18 Grad ab. Deshalb wärmen sie sich immer gerne ein bisschen in der Morgensonne. Digamba hofft auf Trinkgeld. Aber ob das so reichlich fliesst? Richtig voll ist das Lokal nie.

Sein Chef jammert deshalb gerne. Die ersten Bars links vom Wendeplatz am Strand liegen auf Staatsgrund und werden offenbar jedes Jahr neu ausgelost. Er hat diesmal einen schlechten Platz erwischt und konnte deshalb erst spät mit dem Aufbau beginnen. Ob das alles so stimmt, wissen wir nicht. Langzeiturlauber berichten, er habe es in der Vergangenheit ein bisschen zu sehr krachen lassen und sei deshalb bestraft worden. Vielleicht aber war er einfach mit dem Trinkgeld für die Regierungsbeamten zu knauserig.

Digamba denkt schon darüber nach, in eine andere, besser frequentierte Bar zu wechseln. Er sieht das emotionslos, er ist auf das Geld angewiesen. Er ist der einzige Sohn, sein Vater ist tot. Er erzählt das nicht so direkt, er windet sich dabei. Sein Vater habe einen Herzinfarkt gehabt, sagt er. Nun liegt Nagpur mitten im Herzen der Grünen Revolution, die mit hybridem Saatgut und dem Einsatz von Pestiziden viele Bauern zuerst in den finanziellen Ruin und dann in den Suizid getrieben hat. Ob das Digambas Familie ähnlich ergangen ist? Dafür spricht, dass er kein eigenes Zuhause mehr hat. Seine Mutter lebt bei einer seiner vier Schwestern, die alle verheiratet sind. Dort lebt dann auch Digamba, wenn seine sechs Monate in Goa jeweils vorbei sind. Die Schwestern wollen ihn alle gerne bei sich haben. Natürlich weil er ihr Bruder ist. Aber ebenso natürlich, weil er Geld mitbringt.

Digambas Chef ist pessimistisch, dass die Saison noch viel besser wird. Er trauert den vergangenen Jahren nach, als bei ihm die Post abging. Vom Sonnenuntergang bis 22, 23 Uhr leichte Loungemusik für die Westeuropäer, danach bis um zwei fette Bässe für die Russen. Bislang ist die unmittelbare Nachbarschaft davon noch verschont geblieben. Die Bässe dröhnen aus anderen, glücklicherweise etwas entfernteren Lokalen. Die Konkurrenz schläft nicht. Auch das "Hawaii" verdient an den Dauergästen offenbar nicht genug. Doch hier wird nicht zu Raverparties eingeladen, sondern zu Vollmondfesten und zur Feier der Wintersonnenwende. Da dröhnen Bässe und Drums schon etwas leiser über den Strand.

Text und Fotos: © Copyright Heiner Hiltermann