Heiner Hiltermann, Journalist und Autor

Wer um Mitternacht am Busbahnhof in Varanasi ankommt, kann von Glück sagen, wenn er noch eine Autorikscha findet, die ihn zum Hotel fährt. Wobei das von uns reservierte Hotel in der Altstadt direkt am Ganges liegt, die für Autos und Autorikschas nicht zugänglich ist. Der Fahrer hält an einer Kreuzung, zeigt auf eine schmale, dunkle Gasse und sagt, den letzten Kilometer müssten wir jetzt laufen.
Tagsüber hätte ein Träger uns schon längst das Gepäck aus den Händen gerissen. Aber um diese Uhrzeit sind die Gassen leer. Gott sei Dank halten an einigen Ecken Polizisten Wache und helfen uns bei der Orientierung. Das Tor zu unserem Hotel ist verschlossen, aber auf unser Klopfen öffnet verschlafen der Nachtportier.
Varanasi ist den Hindus heilig. Pilger kommen hierher, um sich im Gangeswasser von allen Sünden rein zu waschen. Dass Ma Ganga hochgradig verschmutzt ist – nicht nur durch die Abwässer der Stadt, sondern vor allem durch die ungeklärt eingeleiteten Abwässer der Papier- und Chemieindustrie flussaufwärts –, blenden die Pilger aus: Der Strom ist ein Gott und einen Gott kann man nicht verschmutzen.
Zudem: Wer in Varanasi stirbt und hier zuerst dem Feuer und dann dem Ganges überantwortet wird, kann die Befreiung aus dem ewigen Kreislauf von Wiedergeburt und Tod erlangen. Am Manikarnika Ghat, am östlichen Ende der Altstadt Varanasis, glühen Tag und Nacht die Holzstösse. Ghats heissen die steilen Treppen, die ans Wasser führen. Sie sind benannt nach Palästen oder Strassen, die am oberen Ende liegen.
Am Morgen der erste Blick auf den Ganges:
Breit ist der Fluss und träge rollt er dem noch weit entfernten Meer entgegen. Varanasi ist am Nordwestufer auf einem Felsen errichtet, das gegenüber liegende Ufer ist flach und eine grosse sandige Ebene, die während des Monsuns als Überflutungsfläche dient.
Manchmal allerdings steigt das Wasser höher. Am Raja Ghat sind die Pegelstände markiert: 1948, 1968, 1971 und 1983 floss der Ganges rund 20 Meter höher als heute. Die Ghats und auch der untere Teil der Häuser waren damals völlig vom Wasser überspült. Das Hochwasser, sagen Bootsleute, richtet fast jährlich grosse Schäden an den Ghats an. Ein besserer Schutz? Sie zucken mit den Achseln, was soll man machen, so ist das Leben.

Frühmorgens bereits sind viele Badende am Ganges. Unter unserer Hotelterrasse erledigen drei Frauen ihre Morgentoilette. Im Sari steigen sie ins Wasser, mächtig schäumt ihre Seife. Plastikmüll treibt auf der Oberfläche; in einer Ecke haben sich faulende Blumengirlanden gesammelt, in einer Lache schwappt eine ölige, faulig stinkende Brühe. Drei Meter weiter steht ein Mann bis zur Brust im Wasser und verrichtet seine Morgengebete.
Viele Boote treiben auf dem Fluss. Vom Wasser aus ist die Silhouette der Stadt besonders pittoresk. Brahmanen bieten ihre religiösen Dienste, sie sitzen auf Matten unter ausladenden Sonnenschirmen, neben sich einen kleinen persönlichen Altar. Gurus werben auf Plakaten um die Gunst der Gläubigen. 20, 30 Mitglieder einer dörflichen Pilgergruppe haben sich um einen Brahmanen versammelt und warten auf dessen Prognosen für ihr weiteres Leben. Malerisch mit Rastafrisur, Farbtupfern im Gesicht und orangen Tüchern aufgeputzte Sadhus warten auf Touristen, die sich mit ihnen fotografieren lassen wollen – gegen Geld natürlich. Eine zweite Pilgergruppe besteigt ein schwankendes Boot, dass gerade von der ersten Tour am Morgen zurück gekehrt ist. Golden spiegelt sich die Sonne im Ganges.
Viele Frauen und auch manche Männer opfern ihre Haare in den Tempeln. Der jeweilige Gott nimmt das Angebot gerne an. Kurz wird die Gabe auf den Altar gelegt, dann wandert sie nach hinten und wird ganz profan weiterverwertet. Die Priester verkaufen sie an Zwischenhändler. Zuletzt landet die lange, schwarze Pracht in europäischen Frisierstuben als Echthaarperücke. Alle verdienen grossartig und die Frauen hoffen auf ihr Seelenheil.

Viele Brautpaare kommen ans Dasaswamedh Ghat, um sich im dortigen Tempel den Segen für den Lebensbund geben zu lassen. Der Bräutigam geht vorweg, zieht seine Braut förmlich an ihrem Schal hinter sich her, der per Knoten mit seinem verbunden ist. Von hinten schieben Mutter und Schwiegermutter. Wir hatten auf unserer Herfahrt in der Nacht mehrere Orte passiert, in denen Hochzeiten gefeiert wurden. Der Bus benötigte jedesmal eine Viertelstunde, um am Fest vorbei zu kommen. Eine Band mit Neonlampen wie bei der Basler Fasnacht spielt indischen Balkansound, ein Hofstaat wartet am Eingang des in allen Farben herausgeputzten Hotels auf das Paar. Ein Wagen steht geschmückt bereit für die Hochzeitsreise. Und die führt offenbar zuerst nach Varanasi.

Weiter stromauf geht das Leben an den Ghats aber auch seinen ganz normalen Gang: Bootsbauer richten defekte Kähne, Dhobis, die Wäscher, schrubben Tücher mit Seife und Bürste und trocken sie anschliessend auf den Platten der Ghats. Auf einer Plattform oberhalb spielen Kinder Kricket.
Eine Kiste treibt auf dem Ganges stromab, bedeckt mit einem roten Tuch. Eine Kinderleiche, erklärt ein Passant. Kinder dürfen nach Hindu-Ritus nicht verbrannt werden. Sie werden einfach in einer Art Sarg auf den Fluss gesetzt. Ma Ganga wird sich drum kümmern.
Ein paar Schritte vom Hotel Richtung Osten nur, dann sehen wir die brennenden Scheiterhaufen. An sechs, acht Plätzen lodert die Glut. Weiter hinten werden schon die nächsten Toten, bedeckt mit orange-goldenen Tüchern, in den Ganges getaucht – der letzte Akt vor dem Feuer. In einigen Holzstössen sind die Körper der Toten zu erkennen. Mit langen Stangen stochern die Doms, die "unberührbaren" Feuerbestatter, in den Flammen, um sie richtig anzuheizen. Ein Feuer wird gerade mit Gangeswasser gelöscht, das die Helfer in grossen Eimern herbei schaffen. Das nur angekohlte Holz wird auf die anderen Stösse verteilt. Eine Frau, in einem weissen Sari so dicht verhüllt, dass ihr Alter unmöglich zu schätzen ist, wird zu dem jetzt erloschenen Feuer geführt. Als letzten Akt darf sie einen Tonkrug gefüllt mit dem heiligem Wasser des Ganges in die Asche werfen. Mit einem lauten Knall zerbirst das Gefäss.
Nebenher geht das Verbrennen weiter. Helfer tragen Holz zu neuen Verbrennungsstellen, es ist in grossen Stössen rings um den Platz aufgeschichtet. Auf grossen Booten wird am Ufer der Nachschub angeliefert. Viele Zuschauer hat es, vor allem Inder. Auch für die Einheimischen ist die unmittelbare Berührung mit dem Tod eine Erfahrung.
Hunde nähern sich jaulend und kläffend der noch heissen Asche, die Kühe und Wasserbüffel schnüffeln ungerührt rund um die Holzstösse nach Fressbarem. Der Boden um die Verbrennungsstelle ist mit Müll bedeckt. Die steinernen Podeste, auf denen eigentlich die Holzstösse aufgeschichtet werden sollten und die an anderen Ghats noch deutlich sichtbar sind, hier sind sie unter Unmengen von Asche, Sand und Müll begraben. 
Oberhalb liegt die Altstadt. Die Gassen sind so schmal, dass kein Sonnestrahl hineindringt. Ein Affe turnt an einer Stromleitung auf die Gasse hinunter, die Menschen machen ihm respektvoll Platz. Eine Kuh sucht sich ihren Weg, ein Händler von Opferblumen verscheucht sie, als sie an seiner Auslage zu kauen beginnt. Plötzlich leichter Aufruhr, sogar ein Motorradfahrer, die sich sonst auch hier rücksichtslos hupend ihren Weg bahnen, legt den Rückwärtsgang ein. Um die Ecke biegt ein Leichenzug. In zügigem Tempo tragen vier Männer den in ein oranges Tuch gehüllten Leichnam die Gasse hinunter, vorbei an Essensständen, dunklen Kleiderläden und Wohnungen. Kaum sind sie vorbei, gibt der Mopedfahrer wieder hupend Gas. Unten steigt Rauch auf von den Verbrennungsstätten.
Abends ist am Dasaswamedh Ghat Puja, die hinduistische Gebetsstunde. Über Lautsprecher werden die Verse übertragen, damit die Tausenden Gläubigen und noch mehr Neugierigen auch alles mitbekommen. Vorne zelebrieren sieben in weisse Tücher und Goldbrokat gekleidete Priester ihre Rituale. Viel Schau. Als Sadhu verkleidete Händler wollen allen Touristen eine Tika aufdrücken, das rot-gelbe Mal auf der Stirn, das auf die Verbundenheit mit dem Glauben hinweisen soll. Anschliessend strecken sie die Hand aus – Umsonst ist hier nicht einmal der Tod. Je dunkler es wird, desto mehr Feuerschiffchen gleiten den Fluss hinunter, aus Blättern gefertigte und mit Blüten und Kerzen geschmückte Opfergaben der Gläubigen, die sich die Erfüllung ihrer Wünsche erhoffen.

Text: © Copyright Heiner Hiltermann; Fotos: © Copyright Heiner Hiltermann, Melli Fleig