Heiner Hiltermann, Journalist und Autor

Mit festem Schritt stapft Muthu den Hang hinauf. Er will uns seinen Lieblingsplatz zeigen: eine Stelle am Waldrand fast oben auf dem Berg, die den Blick frei gibt über die Hügel und Täler. Dort, ganz weit im dunstigen Westen ahnt man das Meer.

Muthu lebt in Munnar, dem Zentrum des Tee-Anbaus in Südindien. Munnar liegt rund 1500 Meter hoch in den Westghats, den Bergen, die sich im Hinterland der Küste Karnatakas und Keralas unmittelbar aus der Ebene erheben. Tagsüber ist es sonnig warm, aber nachts kühlt die Temperatur hier im Winter auf sieben, acht Grad ab – ein grosser Unterschied zur Küste, wo selbst die Nächte noch 30 Grad warm sind. Für Muthu ist es die angenehmste Jahreszeit: Im Sommer, von Juni bis Oktober, regnet es hier 24 Stunden am Tag. Für die Teesträucher sind das offensichtlich ideale Wachstumsbedingungen.

Muthu fährt eine Autorikscha und verdient sein Geld damit, dass er Touristen die Schönheiten der Teeplantagen zeigt. Er ist von den Taxifahrern, denen wir in Indien begegnen, der erste, der uns nicht zu betrügen versucht. Im Gegenteil: Muthu bietet uns eine ganz eigene Tour durch die Berge um Munnar. Muthus Eltern arbeiten in den Teeplantagen, er kann viel von der Arbeit und den Lebensbedingungen erzählen.

Muthu hat uns zunächst durch die Plantagen gefahren und uns die schönsten Aussichtspunkte gezeigt: Wie ein samtener grüner Teppich schmiegen sich die Teefelder endlos in die Hügel. Morgens ist die Sicht noch klar und es sind auch noch nicht so viele andere Autos unterwegs. Weil wir aber nicht unbedingt noch Wasserfälle, badende Elefanten und Stauseen anschauen wollen, lädt er uns ein zu sich nach Hause.

Eine kleine Strasse geht es hinauf, die nicht auf der Route der anderen Taxi- und Autorikschafahrer liegt. Die Teesträucher leuchten grün in der Sonne, Jakarandabäume zeigen ihre prachtvollen roten Blüten. Nach fünf, sechs Kilometern hält Muthu am Strassenrand. Jetzt geht es zu Fuss weiter. Muthu lebt mit acht weiteren Familien in einem der kleinen, einstöckigen Siedlungshäuschen, die die Plantagenbesitzer für die Arbeiter in die Teefelder gebaut haben. Den Wohnraum füllt ein grosses Doppelbett, in einem Regal stehen Fernseher und Musikanlage. In der kleinen Küche hinten bereitet Muthu uns einen Tee. Im Eingangsbereich teilen sich sechs Kanarienvögel einen kleinen Käfig. Die Tür steht offen, durch sie fällt das einzige Tageslicht in die Wohnung, Fenster gibt es keine.

Die Wohnung gehört seiner Familie, erzählt Muthu. Seine Eltern sind vor 50 Jahren aus Tamil Nadu geholt worden, um in den Plantagen zu arbeiten. So ganz hat die alte Heimat Muthu wohl noch nicht losgelassen: Seine Frau und sein kleiner Sohn leben noch immer im Nachbarstaat, rund 80 Kilometer entfernt. Er sieht sie oft wochenlang nicht.

Unser Weg zu Muthus Lieblingsplatz führt zunächst an den Hausgärten vorbei. Verschiedene Kohlsorten wachsen hier und Erdbeeren. Die Früchte bieten den Familien eine Art Zweiteinkommen: Sie werden in einer kleinen Manufaktur in der Stadt zu Marmelade verarbeitet und in den Teeshops verkauft. Bald geht es durch die Teeplantagen, und von Nahem besehen sind die Sträucher alles andere als samtig. Eine Frau steht inmitten der Sträucher und schneidet die Äste zurück. Es sind vor allem Frauen, die diese Arbeit verrichten und den Tee ernten, sie haben offenbar ein feineres Gespür für die Qualität der erntereifen Teeblätter. Die Frauen tragen feste Plastikschürzen, ihre Kleider wären von den harten Zweigen im Nu zerrissen.

Wir nähern uns dem Wald und Muthu deutet auf eine breite Spur, die sich steil den Hang hinaufzieht: Hier ist gestern eine Herde Elefanten durchgezogen. Muthu zeigt auf ein grosses Gebüsch weiter unten: "Das essen sie am liebsten!" Auf dem Weg liegen getrocknete Dunghaufen.

Auf einem kleinen Plateau passieren wir eine herrschaftliche Villa. Hier lebt der Manager, der für das Gebiet zuständig ist. Um Munnar herum wird auf 220 Quadratmeilen Tee angepflanzt. Vor rund 100 Jahren haben die englischen Kolonialherren erkannt, dass sich hier der Anbau von Tee lohnt. Weil das Gebiet kaum besiedelt war, holten sie Arbeiter aus dem benachbarten Tamil Nadu. Die Unabhängigkeit Indiens überstanden die englischen Plantagenbesitzer schadlos, doch Anfang der 1980er Jahre erliess die indische Regierung ein Gesetz, das ausländischen Firmen nur noch eine Minderheit an Unternehmen in Indien zugestand. Der Tata-Konzern kaufte sich ein und übernahm Anfang der 1990er Jahre die Plantagen um Munnar komplett. 2005 aber sank der Teepreis massiv und damit Tatas Profit. Der Konzern behalf sich damit, Zweidrittel der Anteile an den Teeplantagen an die Arbeiter abzugeben. Diese sind nun Hauptbesitzer der Plantagen, arbeiten dafür aber für einen Hungerlohn von 200 Rupies am Tag, umgerechnet rund 2,50 Euro, erzählt Muthu. Tata hat einen Anteil von etwa 20 Prozent behalten und verdient jetzt ohne grosses Risiko: Die Arbeiter wollen ihre Stelle behalten und verzichten in Krisenzeiten auch auf Lohn.

Eines allerdings muss man Tata zugute halten: Als der Konzern noch das Sagen hatte, wurden Schulen für die Kinder gebaut, Gesundheitsstationen und Werkstätten für Menschen mit Behinderung eingerichtet und ein gut ausgestattetes Spital in Munnar eingeweiht. Auch auf die Umwelterziehung hat Tata Wert gelegt. Vor den Siedlungen hängen Abfallsäcke, der Müll wird getrennt. Nirgendwo sonst in Indien haben wir sowenig Müll am Strassenrand gesehen. Ein Film im Teemuseum in Munnar berichtet von Tatas Bemühungen um das Wohl der Arbeiter.

Muthu erzählt davon nichts. Er verdient mit seiner Autorikscha das Dreifache seiner Eltern. Seine Frau verdient als Lehrerin ebenfalls mit. Eine Arbeit in den Teeplantagen kann Muthu sich kaum vorstellen.

Text und Fotos: © Copyright Heiner Hiltermann