Dachlandschaften

Der erste Eindruck ist verwirrend! Überall in Rao Rao ragen die First-Enden der Wohnhäuser der Minangkabau hoch in den Himmel, scheinbar ohne System. Welche Spitzen zusammen ein Dach bilden, erschließt sich erst bei genauerer Betrachtung. Weit kragen die Giebel aus, sie sind häufig mit kunstvoll geschnitzten Mustern verziert. Die Spitzen symbolisieren Büffelhörner und erinnern dauerhaft an den Gründungsmythos der Minangkabau, erzählt Armando, der durch den Ort führt. Rao Rao ist das Vorzeigedorf in der Region Bukittinggi, Hauptort des Siedlungsgebiets der Minangkabau in Sumatra. Zwar gibt es in vielen Dörfern noch traditionelle Hausbauten, doch nirgends so viele wie hier.
Vor Urzeiten, erzählt der Mythos, gab es einen Konflikt zwischen den Minangkabau und dem Herrscher von Java, der die Menschen im Hochland von Sumatra gerne in sein Reich eingegliedert hätte mit seiner Übermacht eine große Bedrohung darstellte. Die Minangkabau aber zeigten sich clever und überredeten den Gegner, statt der Krieger zwei Büffel gegeneinander kämpfen zu lassen. Die Javaner schickten einen gewaltigen Büffel auf den Kampfplatz, die Minangkabau dagegen ein Kälbchen. Das aber hatten sie ein paar Tage lang von seiner Herde isoliert und hungern lassen. An die kleinen Hörner allerdings befestigten sie rasiermesserscharfe Klingen. Der Stier war irritiert, als das Kalb an seinem Bauch die Milchzitzen seiner Mutter suchte. Im Nu schlitzten die Messer dem großen Büffel den Bauch auf. Er verendete elendig, als seine Eingeweide in den Staub fielen. An diesen legendären Sieg erinnern die Minangkabau mit ihren Wohnhäusern.

Betritt man ein Haus über eine steile Treppe, kommt man in einen Raum, der die gesamte Länge des Hauses einnimmt. Runde Holzpfeiler stützen das Dach und gliedern den Raum. Hier spielt sich tagsüber das Leben ab. Eine Längsseite wird durch eine Außenwand begrenzt, auf der gegenüber liegenden Seite gehen mehrere Räume ab. Wer aus der Familie in welchem Zimmer unterkommt, ist genau geregelt. Die Minangkabau sind matrilinear organisiert, der Besitz wird über die weibliche Linie weiter gegeben. Heiratet die älteste Tochter, zieht sie mit ihrem Ehemann ins erste Zimmer. Die Eltern und die weiteren Töchter müssen jeweils ein Zimmer weiterziehen. Heiratet die zweite Tochter, bekommt sie das erste Zimmer, und wieder müssen alle wandern. An der Zahl der Fenster ist zu erkennen, wieviele eng verwandte Familien in einem Haus wohnen. Die Zahl der Giebelspitzen gibt Auskunft darüber, wieviele Generationen in dem Haus schon gelebt haben. Reiche Minangkabau haben Häuser mit bis zu sieben Fenster, mindestens drei haben selbst die kleinsten Häuser.
In den Zimmern schlafen nur die verheirateten Paare, die Kinder schlafen im großen Raum, und zwar genau auf den paar Quadratmetern vor dem Zimmer ihrer Eltern. Haben die Jungen das Alter von zehn Jahren erreicht, müssen sie das Haus verlassen. Früher gab es Männerhäuser, in denen die Jungen auf ihre Rolle in der Gesellschaft vorbereitet wurden. Heute hat die Moschee diese Funktion übernommen. Dort nächtigen die Jungen nicht nur, sie verbringen dort auch die meiste Zeit neben der Schule, sie lernen Arabisch und lesen den Koran.  
Viele der Häuser in Rao Rao sind dem Verfall preisgegeben. Eine grundlegende Renovierung ist teuer, ein Neubau für viele unbezahlbar. Doch sie sind immer noch bewohnt.
Auch in den Städten sieht man die traditionellen Dächer. Allerdings schmücken sie in der Regel keine Wohnhäuser, sondern Banken, Versicherungen und öffentliche Gebäude.

Text & Fotos: © Copyright Heiner Hiltermann/Melli Fleig