Heiner Hiltermann, Journalist und Autor

Warum Indonesien?

 

Freiburg, 12. Januar 2023

 

Vor 45 Jahren war ich erstmals in Südostasien unterwegs, drei Monate lang. Die Zeit reichte gerade für Malaysia und den Bundesstaat Sarawak, der im Norden der Insel Borneo liegt. «Weisse Rajas» aus Britannien hatten dort den Holländern Kolonialkonkurrenz gemacht. Ich reiste von Bintulu aus den Sungai Kemena stromaufwärts, las Joseph Conrads «Heart of Darkness» und übernachtete in den Langhäusern der Iban, die noch im 2. Weltkrieg als Kopfjäger Schrecken unter den japanischen Besetzern verbreitet hatten. Sie waren nett zu mir, bewirteten mich großzügig, gegen ein paar Dosen Cornedbeef und Milk Maid. Drei Tage dauerte die Flussreise bis Tubau, wo mich Antony, der Leiter der Medizinstation, freundlich aufnahm. Von hier aus wäre es zu Fuß weitergegangen, über die Wasserscheide nach Belaga am Oberlauf des Sungai Rajang. Aber es herrschte Monsun, meine Gastgeber rieten mir dringend von dem Abenteuer ab. Ein paar Wochen später fuhr ich den Rajang von Sibu aus stromaufwärts bis Kapit. Dann hieß es, der Rajang sei nicht mehr schiffbar, es sei zu trocken. Ich glaubte alles, die Bootsfahrten waren mir Abenteuer genug.

In Kuching, der Hauptstadt Sarawaks, stand ich vor der Entscheidung: Indonesien oder Thailand. Über Land nach Pontianak, damals Hauptort des indonesischen Bundesstaates Kalimantan, der den weitaus größten Teil Borneos einnimmt, war nicht möglich. Der Umweg über Singapur hätte eine Woche gekostet. Also entschied ich mich für Thailand. Die Entscheidung habe ich nie bedauert, Siam war damals schon ein gut zu bereisendes Land und hinterließ mit seinen buddhistischen Tempeln und pittoresken Bergvölkern tiefe Eindrücke.
Seit damals aber will ich nach Indonesien!
Es hat lange gedauert, meinen Reisewunsch in die Tat umzusetzen. 2020 war es erstmals soweit. Melli und ich planten, über Nepal und Indien nach Indonesien zu reisen und von dort aus weiter nach Australien und Japan. Doch Corona bremste uns aus (siehe Reisenotizen –> Indien 2020 –> Ausgangssperre und Abflug). Jetzt starten wir einen neuen Versuch, wollen da anknüpfen, wo wir 2020 abbrechen mussten. Wir reisen sozusagen auf den letzten Drücker, denn meine Parkinson-Erkrankung mit langsam fortschreitenden Bewegungseinschränkungen macht das Reisen nicht einfacher. Die in den Reiseführern vorrangig angepriesenen Tauch-, Schnorchel- und Surf-Paradiese kommen für mich nicht mehr in Frage.  
Aber Tauchen und Schnorcheln zählten auch früher schon nicht zu meinen bevorzugten Urlaubsvergnügungen. Was mich an Indonesien reizte und immer noch fasziniert, sind die Wohn- und Kulthäuser verschiedener Volksgruppen, der Batak zum Beispiel am Toba-See, oder der Minangkabau in Bukittinggi. Die beeindruckenden Dachkonstruktionen der Toraja auf Sulawesi hatten sogar meine Entscheidung befördert, nach dem Ethnologie-Studium noch eine Zimmerer-Lehre anzuhängen. Aber auch das ist fast 40 Jahre her, meine berufliche Karriere hat eine andere Abzweigung genommen.

Damals wäre ich ziemlich unvorbereitet gereist. Informationen waren rar und schwierig zu bekommen. Und meine Kenntnisse in Holländisch halten sich auch heute noch in Grenzen. Der gewaltige indonesische Archipel war Jahrhunderte lang Kolonialgebiet der Niederländischen Ostindien-Kompanie. Heute weiß jeder Reiseführer mehr, als ich mir damals mühsam in den Archiven der Universitätsbibliotheken beschaffen konnte.
Noch einen Unterschied zu damals gibt es. 1978 zeichnete sich der Jihadismus allenfalls am Horizont ab, der Terror beschränkte sich im Wesentlichen auf den Befreiungskampf der Palästinenser, der immer wieder Terror und Krieg im nahen Osten und, seltener, im Westen (Olympia-Attentat) verbreitete und dabei tatkräftig von europäischen Terrorgruppen unterstützt wurde (Geiselnahme in der deutschen Botschaft in Stockholm 1975, RAF-Befreiungsversuch 1977).
Indonesien war auch damals schon das bevölkerungsreichste Land mit dem Islam als Staatsreligion. Auf den Tourismus hatte die Religion damals aber keinen großen Einfluss. Anders heute: Vor wenigen Wochen erst hat das Parlament in Jakarta ein Gesetz beschlossen, das außerehelichen Sex unter Strafe stellt, es droht bis zu einem Jahr Gefängnis. Homosexualität, überhaupt die ganze LGBTQ-Szene ist ohnehin verboten.

Über die Jahre hat der Islam immer mehr an politischem Einfluss gewonnen, mit tatkräftiger Unterstützung der Saudis, die – nicht nur in Indonesien, sondern auch in Pakistan oder Bangladesh – prunkvolle Moscheen bauen und in den Madrassas ihre extrem konservative, wenig volksnahe Interpretation des Islam verbreiten. Madrassas sind Schulen, in denen vor allem die Söhne der ärmeren Schichten Lesen, Schreiben, Rechnen lernen, vor allem aber den Koran studieren. In Aceh, der Provinz im Norden Sumatras, ist seit Jahren die Scharia, die islamische Gesetzgebung, Grundlage der Rechtssprechung.
Beim G 20-Gipfel Ende November war davon offenbar nichts zu spüren. Das Treffen der 20 wirtschaftlich stärksten Länder der Welt – sie repräsentieren ca. 80 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts – fand auf Bali statt, der liberalen, hinduistisch orientierten Insel östlich von Java. Indonesien hatte 2022 den Vorsitz der G-20 inne und war deshalb Ausrichter der Versammlung. Bali, Java, Lombok sind die wesentlichen touristischen Ziele. Wir aber wollen erst einmal nach Sumatra und Kalimantan. Wir sind gespannt, wie es uns dort ergeht.
Fast alle der mehr als 15.000 Inseln Indonesiens sind vulkanischen Ursprungs. Sie bilden den südlichen Abschnitt des pazifischen Feuerrings. Die Erde ist dort immer noch aktiv. 2004 verloren durch einen von einem Erdbeben ausgelösten Tsunami mehr als 160.000 Menschen im Norden Sumatras ihr Leben. In Sri Lanka, Indien, Thailand, Burma und selbst an der fernen Ostküste Afrikas starben weitere 90.000 Menschen. Vor etwa sechs Wochen wurde der Vulkan Semeru auf Java aktiv und zwang tausende Anwohner, ihre Häuser und Dörfer zu verlassen. Kurz zuvor hatte in Cianjur, südlich der Hauptstadt Jakarta, die Erde gebebt, mindestens 160 Menschen kamen uns Leben.
Häufen sich die Ereignisse? Oder sind wir kurz vor unserem Abflug für Nachrichten aus und über Indonesien besonders sensibilisiert?
Nachrichten allerdings spielen nur eine untergeordnete Rolle, wenn wir erst einmal unterwegs sind. Es sind die Begegnungen mit den Menschen, an die wir uns immer wieder gerne erinnern. Und auf die sind wir freudig gespannt.

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