Heiner Hiltermann, Journalist und Autor

Das Wochenende haben wir bei Ishori verbracht, Mellis langjähriger Freundin bei Chhimeki. Ishori spricht kaum Englisch, Melli noch weniger Nepali, aber trotzdem reden und lachen sie den ganzen Tag miteinander. "Sie reden mit dem Herzen", sagt Bibek, Ishoris 24jähriger Sohn.
Ishori und ihr Mann Prasad haben vor drei Jahren ein Haus, gebaut, draussen am Stadtrand von Kathmandu. Der Baugrund war billig, das Haus liegt mitten in der Einflugschneise des Flughafens. Auf der Dachterrasse hat man den Eindruck, man könne den ein oder anderen Flieger mit der Hand vom Himmel holen. Gott sei Dank ist Kathmandu als Flugziel nicht sonderlich begehrt, der Lärm hält sich in Grenzen, und zwischen 21 Uhr und 6.30 Uhr am Morgen herrscht Ruhe.
Die Sicht von der Dachterrasse ist fantastisch. Durch den Streik ist der Verkehr ziemlich eingeschränkt und die Luftverschmutzung entsprechend niedriger als sonst. Über Kathmandu hinweg sieht man die ganze Himalayakette, vom Annapurnamassiv im Westen über den Ganesh Himal bis zum Shisha Pangma. Ganz im Osten glaubt man sogar den Everest zu erahnen.
Am Samstag, dem nepalischen Sonntag, hatte Ishori uns zu ihrer Mutter eingeladen, die in einem kleinen Weiler bei Godavari in den Hügeln südlich von Kathmandu lebt. Streikbedingt fährt fast kein Bus und so überredet Ishori einen Taxifahrer, uns für wenig Geld bis fast vor die Tür ihrer Eltern zu fahren. Wir kennen keine geschicktere Händlerin: Ishori redet viel und schnell und irgendwann ist der Taxifahrer mürbe und sagt einfach ja. Phänomenal!
Ishoris Elternhaus liegt wunderschön inmitten anderer Bauernhäuser. Orangen, Zitronen, Pomelos wachsen hier, in den Gärten gedeihen Kohl, Linsen, Erbsen, Karotten, Zwiebeln und natürlich Chilli. Auf der Terrasse wird Reis getrocknet, hinter dem Haus fressen zwei Kühe ihr Heu. Idylle pur.
Ishoris Eltern sind, wenn wir es richtig verstanden haben, 93 und 91 Jahre alt und leben hier nicht alleine. Weil Ishori keine Geschwister hat – drei Brüder starben als Kleinkinder – kümmern sich zwei Onkel und deren Kinder und Kindeskinder um die Landwirtschaft. Zwei der Nachbarhäuser – genau so idyllisch – gehören ihnen. So ist der Hof dann schnell gefüllt mit Männern, Frauen und Kindern, wobei wir nur eine ungefähre Ahnung davon bekommen, wie die Verwandschaftsverhältnisse wirklich sind.

Ishoris Mutter geht es nicht besonders gut, sie hat Nierensteine, ist offenbar zu alt für eine Operation. Melli ist besorgt, sie hat sie vor einem Jahr hellwach und fröhlich erlebt. Jetzt sitzt sie auf einer Matte und ist sichtlich gequält.

Am späten Vormittag rafft sie sich aber doch dazu auf, mit Melli und Ishori aus Bananenblättern ein paar Opferschalen zu falten. Mit den Ergebnissen der beiden ist die Mutter allerdings ganz und gar nicht zufrieden. Eine Rupie allerhöchstens seien die Wert, urteilt sie. Ihre eigenen gäbe sie für fünf Rupien ab. Aber die Schalen sind ja für eine Puja, eine hinduistische Gebetszeremonie, und da kommt es wohl nicht so ganz genau darauf an, wie gerade sie nun geformt sind.
Ishoris Vater war bei der nepalesischen Armee, man sieht es ihm heute noch an: Er schlägt die Hacken zusammen und steht stramm, als ich ihn um ein Foto bitte. Über seinem Bett hängen Bilder aus seiner Dienstzeit, in einem Anzugssack vermuten wir seine Uniform. Zwei seiner Grossenkel sind ebenfalls bei der Armee, einer hat es bereits zum Major gebracht und spricht gut Englisch. Er wird gerade für einen Auslandseinsatz im Kongo ausgebildet. Im Februar wird er für sechs Monate nach Afrika gehen. Nepals Armee stellt gerne Friedenstruppen für die UNO, die Einsätze werden gut bezahlt.
Die Frau des Majors kocht unser Mittagessen. Sie ist eigentlich Städterin, muss sich widerstrebend mit der Landidylle anfreunden. Sie arbeitet beim roten Kreuz und fährt jeden Tag anderthalb Stunden mit dem Motorroller zu ihrer Arbeitsstelle. Das Rezept für Palak Paneer, Spinat mit festem Frischkäse, hat sie sich am Vortag aus dem Internet geholt, verrät sie Melli. Es schmeckt hervorragend. Am Nachmittag sehen wir sie völlig verwandelt: Stark geschminkt, in engen Leggins und mit High Heels schwingt sie sich hinter ihrem Mann aufs Motorrad, um nach Kathmandu ins Kino zu gehen. Welche Welten muss diese Frau mit sich in Einklang bringen!
Am Mittag plötzlich Aufruhr, eine Menge Leute drängen in den Hof: Ein Kandidat für die Wahlen am Dienstag besucht mit seinem Anhang sämtliche Häuser, er wirbt um Stimmen. Uns fordert er auf, allen zu sagen, ihr Kreuz "bei der Kuh" zu machen. Die Kuh ist das Symbol seiner Partei. Sie ist traditionell-hinduistisch und setzt sich für die Rückkehr des Königs in einer konstitutionellen Monarchie ein.
Die Wahlen beschäftigen uns auch später noch, als wir mit Ishori und Prasad eine ausgedehnte Wanderung um den ganzen Talgrund zum Nationalen Botanischen Garten Nepals machen. Der Weg führt durch verschlafene Weiler und über terrassierte Felder, auf denen gerade der Reis geerntet ist und die für die Aussaat von Weizen für eine zweite Ernte vorbereitet werden. Der Botanische Garten ist eine Ruhezone im hektischen Kathmandu, ein schöner Park, in dem sich die Menschen auch zum Picknick treffen.
Auch für den Heimweg organisiert Ishori ein Taxi, ihr Mann wollte eigentlich nicht. Kurz darauf sind wir aber froh über Ishoris Händlergeschick: Die Strasse ist blockiert, weil weiter vorne an einer Polizeistation eine Bombe entschärft werden muss. Dem Taxifahrer machen Ishori und Prasad eine Umgehung schmackhaft, die uns über abenteuerliche Feldwege ziemlich nah ans Ziel bringt. Aber auch hier geht es nicht ohne Stau: Einmal lädt ein Lastwagen an einer Kreuzung bewaffnetes Militär ab, ein andermal blockiert ein Korso von hunderten Motorrädern die Strasse. Fahrer und Beifahrer – Jugendliche zumeist – schwingen Fahnen der UML, der Marxisten-Leninisten. Eine Tankfüllung und ein Essen sollen die Motorradfahrer für ihre Teilnahme an der Demonstration erhalten, erfährt Prasad. Ob es stimmt? Die UML gehört zu den drei grossen politischen Playern in Nepal und sollte so eine bezahlte Demo eigentlich nicht nötig haben.
Bei Ishori wartet die jüngste Tochter mit Mann und Sohn. Ihr Mann ist Informatiker, aber auch ein begeisterter Hobbykoch. Er hat schon mit der Zubereitung des Abendessens begonnen, reichert es noch schnell um ein Alu Paneer-Gericht an. Alu sind Kartoffeln und Paneer der feste Frischkäse. Ishori hat von ihrem Onkel – oder ist es ihr Cousin? – ein grosses Stück selbstgemachten Käse bekommen. Und tatsächlich schmeckt der Käse ganz anders, viel besser als in der Stadt. Überhaupt werden wir verwöhnt. Nur als wir am Sonntag zum Abschied eine Tasse frisch von der Nachbarkuh gezapfter Milch bekommen, muss Melli sich doch etwas überwinden...

Text und Foto: © Heiner Hiltermann