Heiner Hiltermann, Journalist und Autor
In der Ortsmitte von Manang steht eine große, frisch renovierte Chörten. Morgens um acht treffen sich dort die alten Frauen des Ortes zum Gebet. Unermüdlich umrunden sie das Viereck, drehen mit
geübten Fingern die 48 Gebetstrommeln, zwölf auf jeder Seite. Kommt eine Wandergruppe, treten die alten Frauen bereitwillig zur Seite, um diese vorzulassen. Sie haben alle Zeit der Welt. Nach sieben
Gebetsrunden lassen sich die Frauen auf einer Bank vor der Chörten nieder, um die Neuigkeiten des Tages auszutauschen – ein schönes Bild!
Ein Trekker fotografiert aus der Ferne, eine der alten Frauen schüttelt den Kopf, macht eine abwehrende Handbewegung. Der Trekker tut, als habe er die Geste nicht gesehen. Ein anderer packt auf der
Bank nebenan seine Fototasche aus, setzt ein anderes Objektiv ein, schraubt einen anderen Filter auf. Dann tut er so, als wolle er ein Gebäude im Hintergrund fotografieren. Aber die alten Frauen
wissen natürlich, dass sie das eigentliche Motiv sind und machen auf sich aufmerksam. Der Trekker bittet mit einer Geste um Erlaubnis und hat das Foto längst geschossen, bevor die Frauen eine
Bezahlung für ihre Rolle als Fotomotiv fordern können. Der Trekker lacht und winkt ab. "No Money", sagte er und verschwindet.
Die Frauen nehmen es klaglos hin, ihre Gesten verraten jedoch ihren Unmut. Unmut aber bringt womöglich ein schlechtes Karma. Schon machen sich die Frauen auf zu weiteren Gebetsrunden. Bei ihrer
nächsten Pause steht ein Tablett mit Tee und Gläsern auf ihrer Bank. Sie lächeln, die Welt ist wieder in Ordnung. Den Rücken durchgedrückt, so gut es eben noch geht, machen sie sich auf zu einer
neuen Runde.