Heiner Hiltermann, Journalist und Autor

Die nahen Wahlen am 19. November beeinflussen zunehmend das tägliche Leben. Seit vergangenen Montag lähmt ein Transportstreik den öffentlichen und privaten Nah- und Fernverkehr. Längst nicht alle Unternehmer halten sich daran, aber sie verlangen einen Risikozuschlag. Nicht ohne Grund: Die Anhänger des Bündnisses aus 33!!! Klein- und Kleinstparteien, das zu diesem Streik aufgerufen hat, reagieren zunehmend gewaltbereit: Kein Tag, an dem nicht Sprengstoffanschläge auf Busse, Entführungen von Wahlkandidaten und Schlägereien zwischen den Anhängern der verschiedenen Parteien die Spalten der lokalen Zeitungen füllen.
Viele Menschen haben Angst, dass die Situation in den nächsten Tagen noch weiter eskaliert. Shoba, eine Mitarbeiterin von Chhimeki – dem Frauen-Netzwerk, bei dem Melli mitarbeitet – traut sich nicht mehr, mit ihrem Motorroller zur Arbeit zu fahren, sie nimmt lieber einen anderthalbstündigen Fussmarsch in Kauf. Erstmals seit Ende des Bürgerkriegs 2006 wird wieder Militär zur Aufrechterhaltung der Sicherheit eingesetzt. An allen wichtigen Verkehrsknotenpunkten patrouilieren Polizei oder Armee.
Das Kleinparteienbündnis hatte ursprünglich zu einem Generalstreik aufgerufen, hatte aber bald einsehen müssen, dass ihm dazu genügend Unterstützer fehlen. Ziel war die Verhinderung der Wahlen. Weil dieses Ziel augenscheinlich verfehlt wird, ziehen abends immer wieder Unterstützergruppen durch die Strassen, Parolen mit drohendem Unterton brüllend. Dazu fahren immer wieder Pickups mit grossen Lautsprechern und Fahnen durch die Strassen Kathmandus, die Kandidaten versuchen so, ihre Programme unters Volk zu bringen. Die Stimmung wird immer aggressiver.
Die Führung in diesem Bündnis hat die "Communist Party of Nepal – Maoist" (CPN-M), eine Abspaltung von der damals gleichnamigen Gruppe, die 2006 aus dem Untergrund gekommen war, in Verhandlungen mit Militär und bürgerlichen Parteien den Bürgerkrieg beendete, den König stürzte und bei den ersten relativ freien Wahlen 2008 die absolute Mehrheit nur knapp verfehlte. Damals wurde eine Verfassungegebende Versammlung (VV) gewählt, Parlamentswahlen sollten erst folgen, wenn sich die Parteien auf eine Verfassung geeinigt hätten. Das haben sie bis heute nicht, und so stehen wieder nur Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung an. Ein Parlament hat Nepal bis heute nicht, trotz reichlicher Unterstützung durch die UNO und mehrerer internationaler Ultimaten.
Die damaligen Maoisten nennen sich heute "United Communist Party of Nepal – Maoist" (UCPN-M). Die Partei stellte in der Folge zweimal den Regierungschef, war aber zu wenig kompromissbereit, um eine tragfähige Regierung zu bilden. Trotzdem spaltete sich die radikale Fraktion ab, die an den alten Zielen aus Untergrund und Bürgerkrieg – er forderte von 1996 bis 2006 rund 15000 Tote – festhielt. Diese radikale CPN-M nahm etwa ein Drittel der Abgeordneten der VV mit. Wie umfangreich ihre Unterstützung in der Bevölkerung ist, bleibt aber die grosse Frage. Es sind vor allem die Ärmsten in den Slums (arm ist in Nepal fast jeder!), die mit der Politik unzufrieden sind und auf radikale Lösungen zu ihren Gunsten hoffen.
Die Unzufriedenheit auch weiter Teile der übrigen Bevölkerung mit der Politik ist berechtigt: Seit mittlerweile fünf Jahren blockieren sich die grossen Parteien gegenseitig, ringen um die Macht, statt die Aufbruchstimmung nach dem Königssturz für einen Neuanfang zu nutzen. Nepal, eines der ärmsten Länder der Welt, ist ein sogenannter failing state, ein scheiternder Staat. Die staatlichen Institutionen sind schwach, die ohnehin marode Infrastruktur verkommt, die Preissteigerung trifft immer mehr auch den (kleinen) Mittelstand.
Ob die Wahlen am Zustand etwas ändern? Die Leute, mit denen wir hier reden, sind skeptisch. Die grossen Parteien werden vermutlich gleichstark bleiben, die kleinen – es gibt keine Prozenthürde – das Zünglein an der Waage spielen, die Regierung, mit wechselnden Mehrheiten, weiter schwach bleiben.
Ob die Wahlen fair ablaufen? Auch das ist fraglich. Wahlbeobachter, nationale und internationale, gibt es zwar genug, doch immer wieder werden von Streikunterstützern Wahlunterlagen zerstört. Von den rund 16 Millionen Wahlberechtigten haben sich nur 12,5 Millionen registrieren können. Die Wahlkommission hatte 14 Millionen zum Ziel gehabt.
Und was heisst schon fair? Es gibt eine ganze Reihe kommunistischer Parteien, viele haben Hammer und Sichel als Symbol, die einen die Sichel links, die anderen den Hammer, mal die Spitze auf der einen, mal auf der anderen Seite. Und das ist nur ein Beispiel. Bei 33 Kleinparteien kann man sich vorstellen, dass das bei anderen, z. B. religiösen Symbolen ähnlich ist. Weil in Nepal noch immer viele vor allem Ältere nicht lesen und schreiben können und auf die Symbole angewisen sind, sind Chaos und falsch platzierte Kreuzchen programmiert.

Text und Foto: © Heiner Hiltermann